– BELLETRISTIK –
Kurban Said, Ali und Nino, List Verlag, Berlin 2007,
ISBN 978-3548-60131-1
Ein schicksalhafter Liebesroman.
Zum besseren Verständnis der Mentalität anderer Völker am Rande des östlichen Europas. Wobei das Hauptaugenmerk auf den Umgang von Christen und Muselmanen gelegt wird. In seiner Tragweite wäre solch ein Werk, wegen krankhafter Harmoniebedürfnisse von Gutmenschen und deren politischer Korrektheit, heute nicht mehr möglich.
Einen Vorteil hat der geneigte Leser, welcher informiert ist über vergangenen Zeiten und die Landstriche, wo beide Autoren ihre Erzählung ansiedelten. Jener wird sich auch nicht wundern über die gegenseitigen Massenschlachtereien noch zusätzlich angeheizt von den ökonomischen Interessen der damaligen Industrienationen – den demokratischen Staaten England, Frankreich und USA, sowie der aufstrebenden bolschewistischen Sowjetunion.
Die fatalen Auswirkungen werden auch nach über hundert Jahren in jenen Regionen von allen schon damals Beteiligten weiterhin kultiviert.
Wie damals dreht sich alles ums Erdöl. Um daran zukommen, stört halt immer noch der dort lebende homo sapiens egal welcher Rasse, Religion und welchem Volke er auch angehört…
Allerdings hängt heute jeder von uns mit drin. Sei es auch nur mit einer Betroffenheitslarve im Gesicht, als visueller Endverbraucher, um nach dem Einsatz einer Freitod-Ich-AG die schönen farbigen HDTV-Bilder in der Glotze zu genießen, wenn sie wieder irgendwo in der Welt Asphaltgyros von der Straße kratzen…
Kurban Said: Ali und Nino Berlin: Ullstein, 2000. 271 Seiten – Autor – Links – Literatur |
Als der Wasserburger Literaturstammtisch dieses Buch zur Monatslektüre auswählte hatte ich weder vom Roman noch Autor gehört. Ein Blick ins Internet zeigte mir, daß das Buch in vielen Lesergruppen, Reading Forums etc. diskutiert wurde und in den meisten Kritiken mit Shakespeares Romeo und Julia, mit Margaret Mitchells Vom Winde verweht und Boris Pasternaks Doktor Schiwago verglichen wird. Ich kenne nur das Shakespeare-Stück und ja, es hat zahlreiche Verwandtschaft mit diesem Dauerbrenner. Meine Unkenntnis wird dadurch gemildert, daß Said (auch unter seinem eigentlichen Namen) keinen Eingang ins KLL gefunden hat. Trotzdem ist der gut erzählte Liebesroman vor sozialem, politischen und religiösen Hintergrund die Lektüre wert. Der Leser steigt sofort in die Liebesgeschichte zwischen Ali, einem jungen moslemischen Adligen, und Nino, der christlichen Tochter eines georgischen Fürsten, ein. Schauplatz ist Baku im Kaukasus, umgeben von einem Völker- und Religionsgemisch, daß durch den 1. Weltkrieg und die russische Revolution zum Brodeln gebracht wird. Damit haben wir einige Hauptthemen des Romans: Gegensätze zwischen Asien und Europa, Tradition und Fortschritt, Islam und Christentum, Bewahrung und Veränderung. Mir als erklärtem Kriegsgegner (siehe “Nie mehr Krieg ohne uns” und Bellum Justum – Der Gerechte Krieg) sind alle Kriegsanlässe äußerst verdächtig. Von den drei hauptsächlichen und häufigsten Kriegsgründen Religion, Nationalität und Macht werden im Roman Ali und Nino die beiden ersten thematisiert. Insbesondere zeigt der Autor, wie diese Konfliktfelder schon in Familie, Schule und täglichen Umgang angelegt sind. Hier zeigen sich starke Überschneidungen mit Romeo und Julia, wenn bei Ali und Nino die Betonung auch (zunächst) auf der Religion ruht. Nino weist Ali auf die zu erwartenden Schwierigkeiten einer Heirat hin. “Zuerst werden mein Vater und meine Mutter aus Kummer sterben, weil ich einen Mohammedaner heirate. Dann wird dein Vater dich verfluchen und verlangen, daß ich zum Islam übertrete. Und wenn ich es tue, wird das Väterchen Zar mich wegen Abfalls vom Christentum nach Sibirien verbannen. Und dich wegen Verleitung dazu gleich mit” (S. 56). Es wird nicht ganz so schlimm, weil im Verlauf der Handlung die Familienzwistigkeiten und Nationalitätskämpfe überhand nehmen. Zeitgemäß (das Buch erschien 1937) wird oft arg pauschaliert: “… er will Blut vergießen und Feinde weinen sehen. Wie jeder Asiate” (S. 74). Dies stammt vom Ich-Erzähler, einem Asiaten. Damit kein Zweifel aufkommt: Kurban Said beschreibt und wertet selten; er ergreift nicht Partei, weder für Christus noch Mohammed, weder für Georgien, Türkei, Rußland, Aserbeidschan, Persien, Europa oder Asien. Diese Konflikte werden gut herausgearbeitet (hoffe ich, als unbedarfter Leser zumindest). Vieles ist auch auf unsere Situation übertragbar, so der Dialog auf Seite 78-79: “Wer, teurer Freund, ist der äußere Feind?” “Die Afghanen und Iraker.” “Weit gefehlt, mein Lieber. Äußerer Feind ist jede militärische Formation, die in kriegerischer Absicht unsere Grenzen zu überschreiten droht.” Dass diese Lektion noch immer nicht unstrittiges Allgemeingut ist, werte ich als düsteres Zeichen. Manche Fanatismen erscheinen uns heute humorvoll und das werte ich als gutes Zeichen. “Er betete fünfmal täglich. Mit Kreide schrieb er auf seine Sohlen den Namen des gottlosen Kalifen Jesid, um täglich den Feind des Glaubens mit den Füßen zu treten” (S. 92). Während die Handlung in der ersten Hälfte des Romans allmählich dahinzuplätschern droht, wird es ab der Mitte – Nino wird in einer melodramatischen Szene entführt – temporeich. Die Schauplätze wechseln, die Konflikte weiten sich aus. Wie die familiären, religiösen und West-Ost-Konflikte gelöst werden ist spannend und originell. Ein empfehlenswerter Roman, auch oder besonders für die heutige Zeit. |
Kurban Said = Lev Noussimbaum oder Nussimbaum; 1905 Baku – 1942 Positano; oder = Baronin Elfriede Ehrenfels von Bodmershof * 1894 (ist inzwischen [2008] wohl überholt; siehe Literatur). Anstatt die Mutmassungen über das Pseudonym Kurban Said oder die Wiederentdeckungsgeschichte des Romans hier zu wiederholen, gebe ich eine Biografie über ihn an: Literatur. Autor: Said, Kurban – Kurban Said (Lev Nussimbaum) |
Links |
Irene Knoll. Kurban Said: Ali und Nino. Rezension. Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 |
Perlentaucher.de – Ali und Nino |
Readings Groups: anchorbooks: Ali and Nino by Kurban Said – Ali and Nino by Kurban Said |
The Armenian Odar Reads |