Mal etwas von jener Art Journalismus, wie ich ihn täglich portioniert erhalte und was die Eidgenossen darunter verstehen – nämlich nicht diesen spekulativ/populistische Dünnschiss aus bundesgermanischen Gazetten, von denen ich mich permanent berieseln lasse und immer mehr zwischen den Zeilen lesen muss, wie in alten Zonenzeiten!
Sehr geehrter Herr Simmling
Frankreich hat gewählt, Europa ist erleichtert. Front-national-Chefin Marine Le Pen kommt nicht ans Ruder. Zumindest vorläufig, denn der Gewinner, der frühere Wirtschaftsminister Emmanuel Macron, wird sich und seine ziemlich diffuse Wählerbewegung En marche nun zuerst einmal beweisen müssen. Was will Macron genau? Und wer könnte ihn dabei unterstützen? Es steht ein spannendes politisches Tauziehen mit den etablierten Parteien bevor.
Allein schon die schwere Niederlage der Bürgerlichen und der Sozialisten bereits in der ersten Wahlrunde bedeutet eine Zäsur für Frankreich. Und so dürften sich fortan gerade sozial- und geisteswissenschaftlich gefärbte Kommentatoren ausladend über das neue «Narrativ» in Frankreich auslassen. Intellektuelle lieben dieses Modewort. Es steht zwar für nichts als bloss für «Erzählung» – aber es klingt so schön abgeklärt und bedeutungsschwanger. Doch haben die Franzosen Marine Le Pen wirklich aufgrund eines wie auch immer gearteten neuen französischen «Narrativs» in die Stichwahl geschickt? Und war gar ein neues, eigenwilliges britisches «Narrativ» für den Brexit verantwortlich?
Mit dem wolkigen Begriff «Narrativ» lässt sich die neue Unübersichtlichkeit nicht erklären. Europa steht vor grossen Herausforderungen – dies aber kaum, weil «an den Politik-Lagerfeuern» auf einmal die Narrative nicht mehr übereinstimmen würden, wie der Publizist und Literaturwissenschafter Manfred Schneider zu Recht spöttelt . Er wertet die grassierende Reduktion des politischen Diskurses auf «Narrative» schlicht als «Gedankenrückschritt». Es sind nicht veränderte Narrative, welche die zukünftige französische Politik bestimmen werden, sondern – wie bisher – konkurrierende Ideologien und Interessen.
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Was heute wichtig ist
– Die CDU gewinnt die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein. Erstmals seit zwölf Jahren ist damit eine SPD-geführte Landesregierung abgewählt worden: Die Koalition aus SPD, Grünen und SSW verliert ihre Mehrheit. Nur die Grünen bleiben auf hohem Niveau stabil. An der Wahl im nördlichsten Bundesland Deutschlands durften erstmals auch 16-Jährige teilnehmen.
– Die Glarner Landsgemeinde hat sich gegen ein Verhüllungsverbot ausgesprochen. Der Entscheid wurde im Stimmenverhältnis von etwa zwei zu eins gefällt. Die Regierung und das Kantonsparlament hatten das Verbot zur Ablehnung empfohlen. Damit bleibt das Tessin der einzige Kanton mit einem Verhüllungsverbot.
– In Nigeria lässt Boko Haram 82 verschleppte Mädchen frei. Die Kinder gehören zu einer Gruppe von mehr als 200 Schülerinnen, die 2014 in der Stadt Chibok von der Islamisten entführt worden waren. Die Freilassung wurde vom Internationale Komitee vom Roten Kreuz und der Schweizer Regierung vermittelt. Möglich wurde sie durch einen Gefangenenaustausch.
– Die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns) will die Personenfreizügigkeit kündigen. Die nationalkonservative Gruppierung hat am Samstag die Lancierung einer entsprechende Initiative beschlossen. Eine aus Mitgliedern von Auns und SVP zusammengesetzte Arbeitsgruppe wird in den kommenden Monaten aus drei Varianten einen Initiativtext zimmern.
– Die Schweiz bezwingt Norwegen an der Eishockey-WM. Das Team von Nationaltrainer Patrick Fischer gewinnt 3:0. Die nächste Partie bestreiten die Schweizer am Dienstag gegen Gastgeber Frankreich.
Was wir im Auge behalten
– In Bonn beginnt eine Konferenz von Uno-Klimaexperten. Während zehn Tagen besprechen die Konferenzteilnehmer die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens. Ohne dass es offizielles Thema der Konferenz ist, spielt im Hintergrund mit, ob die amerikanische Regierung aus dem Klimaabkommen austreten wird.
– Ein Berufungsgericht im amerikanischen Gliedstaat Virginia verhandelt über Donald Trumps Einreiseverbot. Dieses betrifft Personen aus sechs vorwiegend muslimischen Ländern. Eine Entscheidung wird heute Montag noch nicht erwartet. Eine zweite Berufung ist noch bei einem Berufungsgericht in San Francisco hängig, nachdem ein Richter in Hawaii ebenfalls den Einreisestopp blockiert hatte.
Unsere Leser empfehlen
– Straflosigkeit für Thailands Reiche Thailands Justiz misst mit zweierlei Ellen. Wer über Geld und Beziehungen verfügt, hat wenig zu befürchten. Andere erleben die härtere Seite der Willkür. Zum Artikel
Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.
Martin Senti, Ressortleiter Meinung & Debatte
NZZ am Morgen,08. Mai 2017
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