DER FASSADENKLETTERER – Herbst ’75

Damals, Ende 1975, beäugte im Lager, oder Rot-Kreuz-Heim jeder den anderen sehr misstrauisch. Noch dazu, wenn Leute auf Bude lagen, die weder in den ersten Tagen zu den Geheimdiensten mussten, außerdem keine Anträge auf Knete nach Häftlingshilfegesetz stellten. Nun wollte keiner ewig Schubladen öffnen und schließen, aber die Gerüchteküche brodelte permanent.
Am Hohenzollerndamm lag ich mit zwei solchen Leuten auf Bude. Sehr merk­würdig erschien mir Harald, der außer den Piepen, je 50 Westmark, die es von SPD, CDU und den “Liberalen” gab, nirgends Quellen anzapfte, lief aber immer in bestem Zwirn umher. Dann tauchte er mal mittags, schimpfend wie ein Rohrspatz im Zimmer auf, denn eine saublöde Verkäuferin besaß doch die Frechheit ihm zwei linke Schlappen zu verkaufen. Sein Nachbar ließ nur cool ab: “Den rechten Schuh hättest du einfach nur im Laden klaufen sollen!”
Mann brüllte Harald los: “Gerade du Idiot willst mir etwas unterstellen. Dich beob­achte ich schon geraume Zeit. Musst ein merkwürdiger Vogel sein, alle erzählen, du hast noch keinen HHG-Antrag (HHG-Antrag – Antrag auf finanzielle Unterstützung nach Häftlings Hilfe Gesetz) gestellt, und dies machen bekanntlich nur Knackis …” Wumms, und schon wälzte sich jemand blutend am Boden.
Dem Boxer tat auch ich mit meinen Vermutungen unrecht, der Mann war ganz harmlos, aber schwer gehandicapt als Analphabet, was er mir kurz darauf beichtete.
Obwohl jeder im DRK-Heim acht Wochen mietfrei wohnen konnte, zog Harald sehr schnell aus.
Monate später kommt Felix, mit dem ich damals zusammen höhlte, aufgeregt eine BZ wedelnd von Arbeit. Auf dem Titelbild prangte – uns Harald – und in der Headline: “Endlich! Der Fassadenkletterer gefasst!”
Natürlich geflunkert diese Aussage, denn Ordnungshüter lasen ihn schwer verletzt auf und ab ging es in eine Spezialklinik. Ärzte flickten ihn zwar wieder zu­sammen, aber unten herum blieb er unlustig, wegen irreparabler Schäden an der Wirbelsäule.
Haralds Revier bestand aus den südöstlichen Stadtbezirken. Er stieg bei seinen Raub­zügen immer durch geöffnete Fenster des ersten und zweiten Stocks ein. An jenem Abend, als er sich nach Gottes Fügung selbst richtete, geschah folgen­des: Im ersten Stock, glitt er rückwärts, auf dem Sims in Rich­tung eines geöffneten Fensters. In luftiger Hö­he, endlich vor dem ersehnten Eingang, sah er sich beim schwungvollen rein jumpen, einem bejahrten Sportsmann gegenüber. Jener schien an frischer Luft, halbnackt im dunklen Zimmer, sei­ne Morgengymnastik nachzuholen. Im Angesicht des Einbrechers schrie unser Sportsmann kurz auf und verschied augenblicklich an Herzversagen, wie Ärzte später feststellten.
Harald darob so erschrocken, schmierte rückwärts ab und brach sich dabei seine wichtig­ste Gräte.
– Wat soll ick dazu saren.
Mir fällt dazu nur eine alte Pilotenweisheit ein – Fliegen heißt landen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert