Der Winter 1967/68 gestaltete sich reichlich herb, viel Schnee, Frost und Hochwasser in den kurzen Tauperioden.
Da man der ewigen Langeweile in der Kaserne sonst nicht entfliehen konnte, waren die wenigen Stunden außerhalb immer ein erhabenes Gefühl, weil nebenbei die Bestätigung einherging, dass man noch lebte und endlich mal wieder etwas sinnvolles tat. Während solcher Einsätze trampelten einem die beknackten Vorgesetzten auch nicht ewig auf den Eiern herum.
Zweimal wurden wir bereits im Dezember zum Schneebeseitigen in Halle-Neustadt eingesetzt, bei nicht allzu starken Kältegraden. Mehrheitlich lungerten die Uffze und Offiziere schwatzend an windgeschützten Stellen in unserer Nähe herum, ließen uns aber in Ruhe. Körperliche Betätigung schien absolut nicht ihr Ding zu sein.
Von der Bevölkerung gab es andauernd leckere Fressereien, Kaffee, Tee mit Rum – manchmal befand sich mehr heißer Alkohol in den Tassen als Partikel des Aufgussgetränkes.
Gleich zu Beginn des neuen Jahres wurde Hochwasseralarm für die mittleren und südlichen Bezirke der DDR ausgelöst. Unsere Kompanie wurde für den Ernstfall zur Sicherung des Selketales im Harz vorbereitet.
Einige Tage marschierten wir jeden Morgen durch den Stadtteil “Silberhöhe” zur Weißen Elster, um in deren Sumpfgebiet Faschinierungsarbeiten zu üben. Was letztendlich hieß, Sandsäcke füllen, stapeln, auskippen. Neuerlich füllen und abermals irgendwo übereinander schichten. Langsam nahm alles Ausmaße von Schikanen an.
Nicht nur, dass wir tagsüber in Schlamm und Feuchtigkeit herum wateten, in der Kaserne erwarteten uns noch zusätzlich diverse Übungsalarme. Um dem Ganzen noch die restliche Würze zu geben, mit Verladung der gesamten Kompaniemunition, sowie Notverpflegung und dem ganzen Sani-Gerödel.
Es war zum Kotzen, denn über Nacht wurden die Klamotten nicht mehr trocken, um Energie zu sparen, wurde außerdem mit verminderter Heizleistung gefahren.
Für mich standen allerdings immer ein drittes oder viertes Paar trockener Stiefel im Keller herum, beim Kompaniekammerbullen. Jenes Privileg wurde mir zuteil durch Poldi, einem Schulkameraden aus Stolberger Heimtagen. Diese Botten stammten aus tschechischer Produktion, sehr weiches Leder, eingegossen in äußerst elastische Kautschuksohlen mit tiefen Profilen. Im Spind konnte ich jene Teile nicht aufbewahren, sie waren total mit Vaseline versiegelt und ließen sich darum nicht auf Hochglanz wienern. Deutsche Soldatenstiefel haben jeder Zeit zu glänzen, deswegen ist Wasserundurchlässigkeit vollkommen nebensächlich.
Frische Kampfanzüge gab für auserkorene Leute auch, allerdings war meine Größe nicht immer vorrätig. Dieses Manko erledigte sich fast von selber, im entsprechenden Augenblick gab es immer einen großen Riss in den Klamotten, Ersatz kam prompt aus der Bereitschaftseffektenkammer.
In meinen 18 Monaten habe ich nicht ein einziges Mal so ein Teil gewaschen, außerdem ewig frische Klamotten getragen. Ganz zu schweigen von der Zeit, die ich durch Beziehungen und meine Aktionen gespart habe. Anfangs taten mir jene Soldaten noch leid, die nicht in der Lage waren, auch nur ein bisschen herum zu tricksen…
Mit einem Ausflug in den Harz wurde es dann doch nichts, da plötzlich wieder Frost einsetzte.
An einem Freitagabend kam für zwei Züge der Befehl zum Aufsitzen, ohne den üblichen Firlefanz. Auf der Strecke nach Köthen musste ein Zug aus dem Schnee gebuddelt werden.
Die ganze Angelegenheit konnte lustig werden. In der Annahme, dass der Tag gelaufen war, hatten Fassi (auch ein Klassenkamerad aus Harzer Tagen) und ich auf der Kraftfahrerbude schon mächtig gebechert und jetzt dies! Mengenmäßig gar nicht so viel, vielleicht anderthalb Zahnputzbecher – aber der Inhalt tat das Seine. Für besondere Anlässe bunkerten Poldi und der stellvertretende Waffenscheich je eine Feldfläschchen für mich. Der Cocktail bestand aus einem dreiviertel Liter Kirschlikör und einem halben Liter 96%igen Sprit.
Fassi traute sich natürlich nicht, über seine innere Beschaffenheit Auskunft zu geben. Besoffen ging er auf den Bock. Mir wurde ganz anders. Seine Brinolfahne versuchte er mit Pfeffis und Kettenrauchen zu verbergen.
Hinter Halle begann heftiges Schneetreiben, dass es den Scheibenwischern Schwierigkeiten bereitete, klare Sicht zu schaffen. Ich, der sonst immer gleich unter einer Bank lag und grunzte, war hellwach und beobachtete den Fahrer durch die rückwärtige Scheibe.
Zugführer Giesekalle bekam wieder Schwierigkeiten mit dem Kartenlesen. Wir konnten ja nichts verstehen, aber merkten, wie er und Gruppenführer Kroß gestikulierend mit einer Taschenlampe über einer Karte gebeugt dasaßen, sich ansonsten auf den Kraftfahrer zu verlassen schienen.
Fassi kutschierte sehr bedächtig, riss aber plötzlich das Steuer so hart herum, dass alle dachten der LO kippt um. Ging ging am Straßenrand in die Eisen, sprang aus der Karre und kotzte. Ich hinten runter, er nuschelte etwas, „eigentlich war ich kurz eingepennt… mit Rechts ranfahren… Notlösung… Kapos nicht mitbekamen…“
Da wir die Kolonne schon lange verloren hatten, lehnte der Kutscher eine Weiterfahrt bei diesem Schneetreiben kategorisch ab. Rangierte lediglich die Kiste weiter an den Rand und erschien auf der Ladefläche.
Was da alles zusammenkam. Vorgesetzte die wie üblich keine Karte lesen konnten, der Fahrer sturzbesoffen, Schneetreiben mit Sichtweiten von noch nicht mal zwanzig Metern und neben uns Wessis in dicken Kisten, die im Blindflug bei mindestens 70 km/h und mehr, über die Piste in Richtung Berlin rauchten.
Auf einmal fiel mir ein, was wollten wir denn überhaupt auf der Autobahn?
Nienberg musste doch zwischen Halle und dem Autobahnanschluss liegen. Nach Fassis Aussage standen wir in Richtung Berlin, aber an Köckern noch nicht vorbei.
Das Schneetreiben ließ etwas nach und der Fahrer erhielt den Befehl zum Wenden. Über den Mittelstreifen ging es ab in Richtung Süden. Nach halbstündiger Fahrt fuhr er wieder rechts ran, vor einem Schild in Richtung Leipzig.
Jetzt hatte der Fahrer die Schnauze gestrichen voll. Ansonsten ein ganz ruhiger Typ, schiss er beide Vorgesetzten zusammen, dass es nur so rappelte und erklomm zum wiederholten Mal die Ladefläche.
Auf einmal schaute Giesekalle zu uns rauf.
“Ichens habe mal eine Frage an siezens. Dastens is nämlich so, kennt sich einer von die Genossen hier aus?”
Wir schauten uns gegenseitig an.
“Nee, das nicht, aber ich kann Karten lesen, zeig mal her.”
Da gab es eigentlich gar nichts zu lesen, durfte vorn neben dem Zugführer hocken und gab nun Anweisungen.
Nochmalige Rückfahrt, diesmal von einer knappen Stunde. Endlich landeten wir in der Nähe von Nienberg, wurden vom Ortssheriff eingewiesen und erfuhren, dass es darum ging, D-131 aus dem Schnee zu befreien.
Das gab vielleicht eine Bescherung!
Auf jener eingleisigen Strecke lagen die Schienen drei und vier Metern unterhalb des Niveaus der umliegenden Felder
Ein Schneepflug, besser gesagt die Lokomotive mit Schiebeschild, war auf dem zusammengepressten Schnee aufgefahren, lag schräg, ungefähr anderthalb Meter hoch auf einem Eisblock in der weißen Pracht. Unsere Aufgabe bestand darin, den nachfolgenden, eingewehten Zug freizuschaufeln, damit man ihn nach hinten wegziehen konnte. Um anschließend mit einem Kran die festgefahrene Lokomotive, die langsam umzukippen drohte, wieder auf die Schienen zu setzen.
Eine schwerlich zu bewältigende Sisyphusarbeit, obwohl fast zweihundert Leute dort schufteten, weil sämtliche frei geschaufelten Stellen mit affenartiger Geschwindigkeit erneut verwehten. Über einen Kilometer betrug die zu bearbeitende Strecke, dann lief der Bahndamm wieder über den Feldern.
Langsam reichte es mir. Angepellt mit Unterwäsche, darüber Hemd, Pullover, Drillichzeug, schließlich der Kampfanzug und darüber die verknotete Zeltbahn, das ganze Zeug schränkte meine Bewegungsfreiheit stark ein. Schwitzte permanent und bei der kürzesten Arbeitsunterbrechung fror ich sofort.
Es sollte kontinuierlich gearbeitet werden. Wir gruben Stufen in den Schnee und schmissen die Brocken, die unten wie Torf abgestochen wurden, immer zum nächst höherstehenden. Langsam setzte ich mich, Arbeit vortäuschend, in Richtung Niemberg ab. In der Bahnhofsgasstätte gab es kostenlosen Glühwein, der einigen Staren bereits mächtig zugesetzt hatte. Dieses Pack hockte warm in der Kneipe, schaukelte sich die Eier, soff und scheuchte die geschafften Soldaten wieder in Richtung Bahngleise.
Nach einem kurzen, aber heftigen Spruch ließen sie zumindest von mir ab. Während meiner vierten oder fünften Tasse erkundigte sich ein Reichsbahner, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm zu arbeiten. Er suchte zwei Leute, um Reisende mit heißen Getränken zu versorgen. Natürlich stand ich augenblicklich auf der Matte. Mir schnallten jemand einen Thermosbehälter auf den Rücken und gemeinsam machten wir uns in Richtung Zug auf.
“Immer schön langsam, Jungchen! Solange sie den Zug noch heizen können, geht alles seinen sozialistischen Gang. Hast doch sicher keine Lust auf raboti, raboti an der Schneefront?”
Der Alte fluchte wie ein Rohrspatz auf alle Organisatoren und dass irgendein Idiot auf die Idee gekommen war, hier zu pflügen, statt den Schnee zu fräsen.
War der Behälter leer, ging es zurück in die Bahnhofskneipe.
Kurze Pause.
In der oberen Etage einige Runden Skat gekloppt und wieder zurück, aber sehr gemächlich. Da konnten Bedenken aufkommen, dass mir in Richtung Zug die Stiefel auf dem Weg anfroren.
Es war toll. Ich tat gegenüber den anderen eigentlich rein gar nichts mehr. Genoss draußen sogar die polaren Verhältnisse, während ich innerlich glühte.
Fast alle Reisenden waren ausgesprochen freundlich, wenn nicht munterte wir sie auf. Für viele schien es ein kurzes Abenteuer zu sein und kam mir vor wie jemand von der Heilsarmee.
So verbrachte ich den Rest des Einsatzes sehr angenehm und war zum Schluss auch noch abgefüllt.
Alle Beteiligten konnten etwas länger pennen und erhielten anschließend Ausgang…
Dieses Geschreibsel gehörte eigentlich zum 8. Dezember
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