Lesen ist die eine Sache, den Inhalt aber auch intellektuell zu verarbeiten, steht auf einem ganz anderen Blatt!
Hinzu kommt jene Tatsache, dass anschließende Interpretationen von Texten mit den Erfahrungen einhergehen, welche aus der verinnerlichten Sozialisation resultieren.
Zu meinen letzten Ostjahren war das alles noch sehr viel einfacher, die meisten in direkter Umgebung schlängelten sich so durch den täglichen Unbill. Worüber aber auch nicht großartig diskutiert wurde. Weil fast alle begonnen hatten, sich mit den zementierten ideologischen Gegebenheiten abzufinden. Parallel zu jener glorreichen Aussicht, war die Suche nach einer bequemen Nische bis zum Rentenalter mit schleichender Resignation verbunden, irgendwann noch mal etwas anderes auszuprobieren.
Fast keiner meiner Sangerhausener Kumpels der 60er/70er Jahre rührte mal ein vernünftiges Buch an. Als erster begann Jimi mit der Leserei, er entwickelte sich zu einem großen Fan von Lion Feuchtwanger. Er kämpfte sich anschließend wacker durch meine Schätze, einige wenige folgten ihm dann ebenso.
Die witzigste Sahelzone deutschsprachiger Literatur fand ich auf einem winzigen Bord in der Küche eines Bekannten. Auf dem dafür vorgesehenen Brettchen stand der berühmteste Ostern der Sowjetunion, „Wie der Stahl gehärtet wurde“ und ein recht abgegriffenes Heftchen: „Das Kommunistische Manifest“. Als Buchstützen fungierten beidseitig zwei leere Cola-Dosen, in denen sein Vater die silbrigen Sondermünzen aus der Lohntüte sammelte…
Ansonsten las der schlitzohrige Schewwerochse (Ugs. Mansfelder Dialekt, Schieferochse, Kumpel im Kupferschiefer Bergbau), seines Zeichens sogar Held der Aktivistenbewegung, noch nicht mal die tägliche Bezirksparteizeitung. Auch war er nie der Dreigrammbewegung beigetreten – Ich war einmal Parteigenosse und bin damals mächtig verscheißert worden, daraus habe ich gelernt!
Der ruhige Patron süffelte mit Freunden im Garten zeitweise seinen Kumpeltod, bis hin zur Rauschphase III, Hang zur allgemeinen Verbrüderung, danach war ihm aber ein ausgeprägtes Hobby seiner hart arbeitenden Kollegen völlig fremd – er verdowackte hinterher niemals Frau und Kinder…
Wie soll man Kids aus solchen Elternhäusern im fortgeschrittenen Alter, wo Weiber und Allohol wesentlich mehr lockten (Ficken und besoffen sein, ist des Schachters Sonnenschein!), noch dazu bewegen, die Nase in ein Buch zustecken?
Es funktionierte, allerdings doch recht langsam, sehr beliebt waren plötzlich Kurzgeschichten vom rasenden Reporter, da gab ich die entsprechenden Hinweise, ebenso bei Grafs Bayerisches Decamerone, nach seinem Hirnpecker (Trug ihn ewig auf Feten vor.) fingen Leute plötzlich an, sich mit dem bayerischen Idiom zu befassen.
Dies unbedarften Aktionen brachten mir langsam, von Stasiseite, sehr viel Ärger ein, genauso das aufkeimende Interesse an nächst höheren Schulabschlüssen…
Nun musste gegen gehalten werden, alles begann mit Machiavelli, Marc Aurel, Schweitzer, Brecht, Tucholsky usw. Dann lief das Faß über, als ich mit Klemperes „LTI“ (Lingua Tertii Imperii) ankam und darin auf die neuzeitlichen Sprachparallelen im sozialistischen Schlaraffenland hinwies…
Etwas später ging es weiter, weil wir uns über ganz spezielle Eigenheiten von kommunistischen Funktionären in der Sowjetunion lustig machten. Als Aufhänger galt dafür Tschingis Aitmatow`s Abschied von Gülsary...
Witzigerweise wurden auch Bibelzitate entsprechend aufgearbeitet und weichgespülte Vergleiche zum vorherrschenden System angestellt…
Soviel anders war es dann im Westen auch nicht! Gott nochmal, was für exorbitante Flachzangen von Kollegiaten- und Lehrerseite kreuzten ab 1977 meine Wege, bereits während des Berlin Kolleg-Vorbereitungskurses und als ich anschließend mein Neckermann-Abitur erschlich…