IN DER GOLDENEN STADT – Ostern ’79

23. Oktober 1975 – ein schicksalhafter Tag, nicht nur für mich, denn am 52. Geburtstag der Mutter meiner Schwester, begann mein zweites Leben auf der anderen Seite von Mauer und Zaun.
Es war mir nie möglich mit ihr über Probleme, die uns beide betrafen, zu spre­chen. Es gab Zeiten, da hätte es mich interessiert, was in ihr vorgegangen war, als ihre Genossen sie mit 51 Jahren in die Wüste schickten. Schon als etwas älteres Kinder leuchtete mir ein, dass sie sich bereits Jahrzehnte etwas vormachte,  da war ich noch etwas feucht hinter den Ohren. Mich traf es dabei am schlimmsten, denn ich schien von ihr auser­koren, stellvertretend, ihre niemals verwirklichten Träume zu realisieren und dies in einer Welt, wo sie Mauern aus Lügen, nicht nur um ihre Kinder baute.
(Pech für mich, dass mein Erzeuger, 1994, schier in der Woche das Zeitliche seg­nete, als ich noch etwas halbherzig begann, ihn ausfindig zu machen. Allerdings ist es dieser Tatsache zu verdanken, dass ich überhaupt von seinem Tod erfuhr. Anschließend musste ich, nach der Sichtung von Unmengen seiner akribisch ge­sammelten Papiere, feststellen, dass nichts auch nur annähernd den Angaben entsprach, die seine Geschiedene über Ihren Ex uns gegenüber verlauten ließ. Der Mann entpuppte sich schlicht als das ganze Gegenteil von dem, was mir berichtet wurde. In meinen minimalen Erinnerungen war er abgrundtief schlecht.)

Fast drei Jahre benötigte meine Erzeugerin nach meiner Übersiedelung, um an die damalige ak­tuelle Anschrift von mir zu gelangen. Niemals erfuhr ich, wie sie es anstellte, um von den Eltern eines Kumpels, die sie absolut nicht abkonnte, meine Adresse zu erfahren. Kurz vor Weihnachten 78 erhielt ich dann einen Brief von ihr. Der erste Brief, den ich nach Jahren erhielt, klang vernünftig, verbunden mit der Bitte, doch diese witzlo­sen Sprüche zu unterlassen. Bis zu dieser Zeit bekam sie nur sehr kurz gefasste Grüße von all meinen Reisen, mit dem Spruch: Damit Du siehst, dass die Prophezeiung Deiner Genossen noch nicht eingetreten ist. Ich gehöre immer noch nicht zu den Rauschgifttoten der freien westlichen Welt!
Aus irgendwelchen Gründen erhielt sie jede meiner Karten. Was mir zu Ostzei­ten und nachher im Westen nicht immer zu Teil wurde. Allerdings versah ich nach dem Grenzwechsel Briefrückseiten nie wieder mit Nachsätzen wie folgendem:
Dieser Brief ist keine Drucksache, was sich unschwer am Porto erkennen lässt! Der letzte Leser vor dem Empfänger möge nicht vergessen den Brief zu verkle­ben, verbunden mit lieben Grüßen an alle!
Manchmal erreichten mich zu Ostzeiten Briefe von Freunden, trotz ähnlicher Kommentare auf der Rückseite. Nur einmal bin ich von den Organen gefragt worden, was das denn solle, schließlich gäbe es in der DDR das Briefgeheimnis, worauf mir nichts ein­fiel. Allerdings bekam ich von der Post mal Auszüge von Bestimmungen zugesandt, in denen es hieß, dass es für die zu befördernden Mitteilungen Normgrößen geben würde. Zweimal musste ich mir Zuschriften persönlich am Schalter abholen und wurde nebenher belehrt. Es handelte sich damals um ordentlich frankierte Grüße, notiert auf einem Bierdeckel und einer aufgerissene “Salem” Schachtel.

Ich gelobte nach “Mutters” erstem Brief Besserung. Was zur Folge hatte, dass zwei Briefe später schon wieder die ersten Vorhaltungen ihrerseits auftauchten. Dies veranlasste mich, nur auf den Wunsch meiner Großmutter nach bestimmten Ge­würzen einzugehen und brach den Kontakt sofort wieder ab.
Als meine Großmutter Anfang 1979 dieses Treffen in Prag vorbereitete, ahnte ich schon, dass sich die Großwetterlage zwischen meiner “Mutter” und mir nie än­dern würde. Meine Vorahnung bestätigte sich, nicht der geringste Anflug von fried­licher Koexistenz schien möglich. Jede noch so belanglose Postkarte benutzte sie anschließend, um mir zumindest einen kleinen Nadelstich zu versetzen.
(Mehrere Jahre tat ich so, als ginge es mich nichts an, dann, in den Achtzigern, kam ein Vergeltungsschlag. Damals in Rot-China unterwegs, entnahm ich aus ei­ner kommunistischen Postille, dass Hunderttausende ehemaliger Ossis vor der hochkant stehenden Autobahn in Berlin harrten, um wieder unter Erichs Fittiche zu kriechen. Da musste ich ihr einfach die Mitteilung machen, dass sie sich keiner Hoffnung hingeben brauchte, mich in einer dieser Schlangen zu vermuten.)

Kurz vor dem Osterfest erreichte mich eine Anfrage von Oma, ob die Möglichkeit eines Wiedersehens bestehen würde. Diese Gelegenheit bestand nur im Tschechland oder in Polen. Da während dieser Zeit sowieso ein Treffen mit Freunden in Prag verabredet war, ließ ich mich darauf ein. Unter einer Bedingung. Meine damalige Freundin Gabi sollte bereit sein, als Unparteiische zwi­schen meiner Mutter, die mitkäme, und mir zu agieren. Nur unter dieser Einschränkung war ich zu einem Treffen bereit, Oma gab auch ihr Einverständnis. Das Wiedersehen sollte im Restaurant “U Fleku”, Ostersonntag, nachmittags statt­finden.
Im Gegensatz zu Gabi, die alles sehr spannend fand, wurde mir immer mulmiger, je näher der Termin rückte. Schon die Tatsache, dass die meisten meiner Freunde Volksdrogenabhängige waren, ließen in mir Zweifel aufkommen, ob eines ge­meinsamen Trips ins Goldene Prag.
Der kluge Mann baut vor.
Notfalls sollte mein alter Kumpel Nebel als Vermittler einspringen, um für Gabi den Part eines Neutralen zu übernehmen, denn ich wollte auf keinen Fall solo er­scheinen. Es kam, wie es kommen musste. Auch ohne mein Zutun bekam Madame ihr Ostblocktrauma, aber sie hielt durch bis zum bitteren Ende.
Gründonnerstag, am späten Vormittag, kamen wir mit dem Zug über Bayern in Prag an. Nach Auskunft der Tourist Information gab es in der ganzen Stadt für die nächsten Tage keine Zimmer. Dies war mir natürlich klar und wollte, wie üblich, irgendwo schwarz pennen. Leute mit Zimmerangeboten lungerten massig vor den Čedok-Reisebüros herum.
Auf eine illegale Übernachtung wollte sich Gabi auf keinen Fall einlassen, schließ­lich kannte sie die Story meiner letzten Penne vergangenes Silvester.

Mit Freunden ergatterten wir eine sehr preiswerte Unterkunft, wo sogar noch ein Haufen Leute zusätzlich unterkamen. Allerdings gab es hinterher, wie er wartet, an der Gren­ze, den üblichen Zeck bei der Ausreise, da niemand eine polizeiliche Anmeldung vorweisen konnte. Außerdem gebärdeten sich die Grenzorgane, wie üblich sehr neugierig, was unsere Unterkunft anging. Nach einer Stunde Wartezeit, erledigte sich alles. Die Geldstrafe betrug 600 Kronen, was ungefähr 40 DM entsprach, und dies war ent­schieden preiswerter als Übernachtungen in Devisen-Hotels. Allerdings zögerte sich der Aufenthalt dann doch noch etwas hin aus, als zwei kleine Blöcke, von Bußgeldbescheinigungen je einer Krone, in Miniabreißkalenderformat zu dreihundert Stück, sofort nach dem Bezahlen in den Papierkorb flogen. Daraufhin flippte der mich abfertigende Grenzer aus. Drohte mir noch weitere Strafgelder an, da ich einer grenzpolizeiliche Maßnahme nicht die gebührende Aufmerksamkeit schenkte. Ihn dadurch beleidigte, da es sich im Prinzip um tschechisches Geld handelte, welches im Abfallbehälter landete. Dies könnte ich aber wieder gutmachen, müsste dafür allerdings die beiden Quittungsblöcke aus dem Behältnis klauben und sie nachzählen. Mein Kumpel Andy gab mir zu verstehen, mein loses Maul zu halten und endlich mit Nachzählen zu beginnen. Sehr schnell bildete sich in dem Raum eine Schlan­ge von allen möglichen Leuten, die uns nun ihrerseits anmachten wegen der Akri­bie die wir an den Tag legten. Meinen Einwand, dass ich so etwas noch nicht mal in Polen oder der Zone erleben durfte, ließ der Grenzer nicht gelten.
“Po­lacken und die armen Deutschen nördlich dieser Grenze seien sowieso halbe Russen und deshalb für ihn nicht maßgebend.”
Aus den 600 Zetteln schichteten wir kreuzweise, erst Zehnerhäufchen, dann Fünfziger. Zum Schluss stimmte alles auffälligerweise.
Während dieser minutenlangen Aktion beobachteten uns die tschechischen Grenzer belustigt. Schade, dass wir nicht verstanden, was sie ne­benher für Kommentare abließen. Nach Beendigung der Zählerei hielt mir ein Grenzbeamter den Papierkorb hin, und ich ließ bedächtig Stapel für Stapel in das Behältnis schneien.
Dann kam das übliche Ausreiseritual, der oberste Genossen ermahnten uns – wie jedes Mal – in Zukunft die Meldebe­stimmungen der Tschechoslowakischen Republik zu beachten und alle gelobten – auch wie immer – beim nächsten mal Besserung.
Diese Ausreise war auch die letzte, auf dem un­echten Transit nach Westberlin durch das Schlaraffenland.

Da Čedok uns natürlich nicht helfen konnte, mussten wir uns etwas einfallen las­sen, also Einheimische fragen. Auf dem Weg zum Wenzels-Platz ereignete sich die erste Lektion für meine Freundin, als von mir ein distinguierter ältere Herr, erst Deutsch, dann Englisch, schließlich auf Russisch angesprochen wurde. Nach der letzten Anfrage blieb er ruckartig stehen und ging freundlich auf uns zu und erwähnte entschuldigend, dass er in Gedanken daher lief. Allerdings hätten ihn die russischen Laute in die Wirklichkeit zurückgeholt. In diesem herrlichen Deutsch mit tschechischen Akzent wurden wir gewissenhaft darauf aufmerksam gemacht, dass man in seinem schöne Land als Freunde jede Sprache sprechen könnte, außer rus­sisch. Der alte Herr geleitete uns zu einem nagelneuen Hotelschiff auf der Moldau und handelte eine Über­nachtung aus, die wir sogar mit dem Zwangsumtausch begleichen durften, was sich als sehr preiswert für diese Nobelherberge herausstellte.
Gabi verarbeitete immer noch die für sie sehr merkwürdige Reaktion des Man­nes, als sie auf dem Schiff etwas mitbekam, was nicht nachvollziehbar schien. Es geschah kurze Zeit später im Speisesaal des Schiffes. Obwohl wir in verwasche­nen Jeansanzügen auftauchten, schoss der Oberkellner sofort auf uns zu und erkundigte sich sehr freund­lich, wo wir sitzen wollten. Er empfahl einen Platz zur Wasserseite und schi­ckte sofort den verantwortlichen Kollegen für die Getränke. Anschlie­ßend erschien der nächste, der uns beriet, was das Essen anging. Da für alle Ge­richte, laut Speisekarte nur Knödel oder Pommes vorgesehen waren, erkundigte ich mich nach der Möglichkeit, Salzkartoffeln zu bekommen, „Kein Problem mein Herrr!“
Wenige Meter neben uns, an mehreren zusammengerückten Tischen, saß schon als wir kamen, ein älteres Ehepaar, das offensichtlich von den Kellern igno­riert wurde. Mittlerweile stand sehr artig wartend, ein weiteres Pärchen an den Stufen zum Speisesaal, welches erst zonenmäßig platziert wurde, als die Dame aus der Rezeption den Oberkellner flüsternd darauf aufmerksam machte. Sie lie­ßen sich ohne murren, zu den anderen bugsieren, weiter pas­sierte nichts. Langsam fand meine Freundin diese Art des Umgangs mit Nachbars unverschämt. Was mich nur amüsierte, mein Kommentar: „Die Tschechen bedan­ken sich halt immer noch für die erwiesene Hilfe, vom Juli ´68“, brachte sie auf hundert. Derweil unser Essen kredenzt wurde, registrierten wir das erneute An­kommen eines älteren Paares am Nachbartisch. Endlich erschien bei ihnen der Getränkekellner, sein nachfolgender Kollege maulte die Leute an, dass die Mittags­essenzeit gleich rum wäre und es die Sache vereinfachen würde, wenn sie alle­samt das gleiche bestellten, er könne Goulasch empfehlen.
Auf die zaghaft vorgebrachte Frage einer Frau, ob es denn machbar wäre, den Goulasch mit Salzkartoffeln zu bekommen, kam vom Ober sehr bestimmt: Nein! Der Hinweis mit Blick zu uns, dass ich doch auch ohne Probleme Salzkartoffeln bekommen hätte, beschied der Kellner auf seine Art. Er wippte auf den Zehen­spitzen, weit zu uns rüber gebeugt und gab die Antwort: “Meine Dame! Ich sehe bitt scheen am Nachbartisch auf den Tellern keine Salzkartoffeln, und wenn ich keine sehe, dann gibt es auch keine! Also was meechten sie dazu, bitt scheen?”
Unsere Anrainer schienen nun auch keine mehr Kartoffeln zu sehen, schein­bar waren sie froh, überhaupt noch etwas zu bekommen. Gabi flippte schließlich aus, als von mir, während der Bezahlung reichlich Trinkgeld in West zum Kellner floss.

Am späten Nachmittag landeten wir das erste Mal im U Fleku. Dort wies meine Freundin auf einen weiter entfernten Tisch. Von dort schauten junge Leute zu uns rüber und wir schienen deren Thema zu sein. Ich setzte meine Brille auf und registrierte ein Rudel aus Sangerhausen. Am Tisch wurde mir mit großen, er­staunten Augen und Stillschweigen begegnet.
Was is´enn los Leute, ihr glotz ja, als ob ihr ein Gespenst seht?
Ja…, aber…, schon merkwürdig Ede…
Ich habe es doch gleich gesagt, es gibt nur einen, der Zigarettenschachteln seitlich so aufreißt, und die Kippe bevor er sie anbrennt, zwischen den Lippen drehend anfeuchtet, dies macht nämlich nur der Alte…
Mann, Ede, das ist ein Ding…!
Sagt mal Leute, was ist denn mit euch los?
Ja, Ede, schon seit Jahren wird erzählt, dass du tot bist, Heroin und so…
Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da habt ihr nicht alles geglaubt…
War schon merkwürdig diese Situation. Da traf man im Ausland alte Bekannte, wo ich sonst Wochen gebraucht hätte, um sie alle mal zu sehen – ganze Arbeit von Horch und Greif. Gabi verstand nichts mehr.

Nachts im Hotel gab es einen Lichtblick. Die neue Empfangsdame erklärte sich bereit für einen Zehner weitere Unterkünfte zu besorgen. Freitag und Samstag, in einem während der Feiertage leer geräumten Arbeiterwohnheim am östlichen Stadtrand, und die restlichen Tage im Europa-Hotel am Wenzels-Platz. Dies hob Gabis Stimmung, denn sie sah sich schon die nächsten Tage stundenlang nach einer Bleibe umherirren.

Karfreitag, 14 Uhr, stand die Verabredung mit Nebel im U fleku an, was sich im Nachhinein nicht als günstig erwies. Dort meiner Freundin etwas bescherte, was sie veranlasste in Betracht zuziehen, dieses „schrecklich Land“ sofort zu verlassen. Dabei spielte ich aber, wegen meiner eventuell noch auftauchenden Großmutter nicht mit, was sie einsah.
Wir hockten in dem hinteren, sehr schmalen aber langen Raum, am Biergarten, tranken unser Bier, schnackten, als Trillerpfeifen ertönten und ein Rudel Bereitschaftspolizei mit gezogenen Gummiknüppeln den Saal stürmte. Bis dato herr­schte eine ausgelassene Stimmung, alles was als DDR-Hippie reisen konnte, schien sich wie immer hier versammelt zu haben. Es wurde bis zum Abwinken gesoffen, Zonen-LSD geschmissen, Blues geklampft und mehrere Mundies* – (*Mundies ugs. Mundharmonikas, Bluesharps) wim­merten.
Besoffene und Übernächtigte lagen in ihren Poftüten zwischen den Tischen – Mini-Woodstock auf Tschechisch. Plötzlich Chaos um uns herum, Fenster wurden aufgerissen, Taschen und Rucksäcke flogen nach draußen. Leute hech­teten hinterher und außerhalb ebenso zusammengeschlagen und mussten sich anschließend in Fingerstellung um die Kastanien und an den Wänden auf­stellen. Uns drei würdigte man keines Blickes, ringsherum prügelnde Uniformierte, die aber peinlichst Obacht gaben, dass uns nichts passierte. Es kam mir vor, wie inter­aktives Theater, und wir als Zuschauer mittenmang. Gabi bekam einen Wein­krampf und schrie, dass wir doch etwas unternehmen sollten. Nebel versuchte sie zu besänftigen und sprang hinter ihr her, hielt das Mädel fest, als sie in diesem Hexenkessel begann den offenbar Verantwortlichen dieser Aktion anzuschreien. Auch ich hätte bei diesem Typen zum Rocker werden können. Ein Zweimeter­mann im Ledermantel, der breitbeinig, seine Hände auf dem Rücken verkrampft hielt und dann und wann nur nickend ein Zeichen gab.
Nun schrie Gabi zu mir, schüttelte mich, schlug mir ins Gesicht, bis es gelang sie an mich zu pressen. Ihr Gesicht an meiner Brust und weinte sie hemmungslos, als sich ein junger Spund mit verheultem Gesicht hilflos vor uns aufbaute, “Seht ihr, so springen sie mit uns Ostlern um. Für die weite Welt haben wir nur eine Bahnsteigkarte, deshalb können sie mit uns solche Sachen anstellen. Euch lassen sie in Ruhe, da sie geil auf eure Knete sind …!”
Ein pfeifender Gum­miknüppel beendete seine Ost-Westbetrachtungen. Schon Richtig, aber was konnte ich mir dafür kaufen.
(In diesem Moment kam es mir. Wenn der wüsste, dass ich ein paar Jahre vorher manches dafür gegeben hätte, so etwas mal life zu erleben. Der konnte sich we­nigstens von tschechischen Bullen seine Fresse polieren lassen, was mir damals noch nicht mal zugestanden wurde, wegen meines PM 12´s. Spä­ter, als ich mich einige Wochen illegal im Tschechland aufhielt, verspürte ich aller­dings keine Lust auf solche Actions.)

Nebels Einwand, dass es sich um eine ganz gewöhnliche Polizeiaktion gehandelt habe, die man jederzeit in der Zone erleben konnte, munterte meine Freundin auch nicht auf. Zu guter Letzt waren wir nur noch zu fünft, einschließlich des Kellners und dem Leder bemäntelten. Gabi insistierte schluchzend, schrie dabei wieder den Zivilbullen um eine Erklärung an, der verzog keine Mine. Dann flüsterte er dem Kellner etwas zu und verließ beschwingt den Raum, der Angestellte wandte sich an uns, ließ über diese Polizeiaktion – die auf Wunsch der DDR-Behörden stattfand – so etwas wie eine Entschuldigung ab, obwohl uns ja niemand behelligte. Für diese Art von Humor gehörte ihm sozusagen eine in sein Fressbrett. “Ich meechte mich noch einmal bei ihnen entschuldigen. Bitt-scheen begeben sie sich zum Ausgang! Wir werden für sie auf Kosten des Hauses ein Taxi ordern, dass sie dann bitt-scheen in eine Restauration ihrer Wahl befördert. Ich wünsche weiterhin einen angenehmen Aufenthalt im goldenen Prag.”
Sprachlos bahnten wir uns einen Weg durch den Wirrwarr im Innenhof, und be­gaben uns zum Kalicha.
Am Ende dieser Fahrt hätte ich um ein Haar den Fahrer aufgetuckt(auftucken jemanden seine Fresse polieren, ihm ins Gesicht schlagen), als er versuchte das Zehnfache abzukassieren. Nach der Weigerung diesen unverschämten Preis zu zahlen, verstand er plötzlich kein deutsch mehr, und versuchte über Funk, Kollegen zu erreichen. Noch während des Aussteigens, Gabi und mein Kumpel blieben im Wagen sitzen, gab ich ihm zu verstehen, die Polizei zu holen. Sofort bewegte der Fahrer beide zum Verlassen des Wagens, verbunden mit dem Verzicht auf Bezahlung.
Zu später Stunde bestand Gabi darauf, allein ins Wohnheim zu fahren. Dieser Trip kostete sie ein Vielfaches, da der Droschkenkutscher genauso drauf war, wie jener vom Nachmittag.
(Samstagabend erlebten wir dann das ganze Gegenteil, kurz nach 22 Uhr in der Nähe vom Wohnheim auf der Suche nach einer Kneipe. Der Taxifahrer sprach zu unserer Verwunderung Deutsch mit rheinischem Akzent. Er stellte nach einer halben Stunde die Uhr ab, da es ihm peinlich wurde, um diese Zeit kein offenes Restaurant mehr zu finden. Ein Weilchen saßen wir noch im Auto und unterhielten uns. Der Typ war 68 nach Westdeutschland abgehauen, lebte seit dieser Zeit in Düsseldorf mit Frau und zwei Kindern.
Trotz Behördenwarnung reiste er wegen eines Todesfalles mit einem Staatenlosenpass ins Tschechland, da ihm die Botschaft zusicherte, dass er wieder ausreisen könnte. Aber Pustekuchen. Nach der Beerdigung ging es für ein paar Monate in den Knast, anschließend war er wieder tschechischer Staatsbür­ger, allerdings ohne Reisemöglichkeiten. Seine Familie ließen sie nur noch zu kirchlichen Feiertagen Besuchsweise einreisen, was er als sehr belastend em­pfand, da seine Kinder mit nichts mehr klar kamen.)

Sonntag, als wir mittags wiederholt die Räume im U Fleku ableuchteten, hielt mir plötzlich von hinten jemand die Augen zu. Ich drehte mich erschrocken um, nahm meine Mutter wahr, die in eine Ecke wies. Dort hockte etwas verstört meine Großmutter. Ohne meine Erzeugerin weiter zu beachten, steuerte ich zur Oma und knuddelte sie. Gabi rettete diese merkwürdige Situation, indem sie sich mit meiner Alten bekannt machte. Als erstes bekamen wir zu hören, dass es für beide nicht möglich schien Übernachtungsmöglichkeit zu finden, deshalb seelisch darauf eingestellt waren, die Nacht durchzumachen und mit dem ersten Zug wieder nach Berlin zu fahren.
Meinen Einwand, dass ich ein Zimmer besorgen könnte, brachte Mutter in Rage; “Wenn ich nichts bekommen habe, wird es der Junge auch nicht fertig brin­gen!”
” Lanta, wenn das Jungchen ein Zimmer besorgen kann, dann wird es schon so sein!”
Ich fand die Oma köstlich, da ich mir weiß Gott nicht sicher war, ob es klappen würde, außerdem gab es Jahre, wo ich zu der alten Dame keinen Draht fand.
(Dies eskalierte in der Zeit, als wir in ihrer Wohnung über ein Jahr nur schriftlich verkehrten. Meine Mutter legte damals für mich ein Heftchen an, auf dem stand: Ausgaben für Klaus
Dort rechnete sie mir sogar den Verbrauch von Streichhölzern vor. War sie der Meinung, ich hätte mal wieder eine ganze Schachtel verbraucht, trug sie 10 Pfen­nig ein. Am Monatsende wurde dann per Briefchen abgerechnet. Sehr oft, wenn ich mich in der Küche aufhielt, in der man sich kaum drehen konnte, wuselte Oma auch dort rum und führte Selbstgespräche. Dieser Psychoterror gipfelte oft in der Bemerkung, wenn Opa das wüsste, wie ich rum liefe und mich aufführte, er sich im Grab umdrehen würde. Wochenlang perlten diese Anmachen an mir ab, ohne ei­nen Ton von mir zu geben.
Schließlich war das Maß voll.
Es fing wie üblich an. Dann kam aber eine neue Variante dazu. Wenn es so weiter ginge, würde sie den Gashahn aufdrehen. Jetzt reichte es mir, ich schnappte die wesentlich kleinere Frau, klemmte ihren Kopf unter meinem Arm und drückte ihr Gesicht auf den vorderen Gasbrenner und öffnete den Hahn. Dabei schrie ich immer wieder, sie solle in sehr tiefen Zügen inhalieren, denn ich könnte diesen Terror nicht mehr ertragen.
Durch Omas Hilfeschreie stand plötzlich wie versteinert ihre Tochter ebenfalls kreischend an der Küchentür. Ich schubste daraufhin meine Großmutter in ihre Richtung, die sich, am ganzen Körper bebend, in den Sachen ihres Kindes ver­krallte.
Alles was auf der Arbeitsplatte stand, die Teekanne, meine Stullen, Butter und Wurst wischte ich noch runter und ging langsam auf beide zu, mit der Bitte, wenn wir uns schon nichts zu sagen hätten, auch wirklich Stillschweigen wahren sollten! Denn ein zweites Mal würde es nicht so glimpflich abgehen.
Dass ich mich so weit gehen ließ, bereitete mir Unbehagen. Es musste wohl erst so weit kommen. Anschließend lebten wir wenigstens als Fremde friedlich neben­einander.)

Gemeinsam spazierten wir zu unserem Hotel. Dem „Europa“ sah man mit viel Phantasie den Glanz der vergangenen Zeiten noch an. Auch die Bedienung schien noch vom alten Schlag zu sein, zwar etwas langsamer, aber sympathisch und zuvorkommend. Während alle einen Kaffee tranken, beschloss ich, etwas wegen des Zimmers zu unternehmen. Lanta stand mit auf, “Dies will ich sehen, denn das „Eu­ropa-Hotel“ war das einzige Hotel in dem ich schon nachfragte und den Bescheid erhielt, dass sie ausgebucht seien, und momentan in Prag auch nichts zu finden sei.”
” Wenn es sein muss, dann komm mit, aber gleich mit euern Ausweisen!”
Nölend suchte sie die Dinger raus und taperte mir nach.
An der Rezeption verlangte ich die Zimmerschlüssel und reichte auf Verlangen meinen Ausweis über den Tresen, aus dem ein Zehnmarkschein rausschaute. Da­bei bat ich den freundlichen Herrn doch einmal nachzuschauen, ob nicht zufällig ein Doppelzimmer für zwei Tage zu haben sei. Er reichte mir meine Schlüssel, gab mir den Ausweis zurück, wälzte dabei sehr aufmerksam den Anmeldungs­folianten und schaute dabei mehrmals zu mir auf. Ich verstand. Unauffällig fiel auf die Buchseiten ein weiterer Zehner den er sehr geschickt verschwinden ließ. Während dieser Aktion schaute ich grinsend zu meiner Mutter, die alles haarklein mitbekam. In ihrem Gesicht blankes Entsetzen, die Kinnlade ging dabei langsam nach unten.
Bitt-scheen mein Herrr, wie ich aus dem Buch entnehmen kann, hat vorr kurrzerr Zeit ein Ehepaarr abgesagt. Selbstverrständlich kennen sie krriegen diese kleine Zimmerr!“
Leicht verdutzt schaute er in unsere Richtung als ihm zwei Ostausweise rüber gereichte wurden. Dann drückte ich Lanta, die immer noch wie versteinert dastand, die Zimmer­schlüssel in die Hand und begab mich zurück in das Restaurant, kurz vor unserem Tisch überholte sie mich, außer Puste zu ihrer Mutter gewand: ” Oma, weißt du was der Junge jetzt gerade gemacht hat. Oma weißt du was er getan hat?”
“Was denn los, Lanta, du bist ja außer dir…!”
“Oma, der Junge hat den Mann am Empfang mit Westgeld bestochen…!”
“Na hat er denn ein Zimmer bekommen?”
“Ja aber…, er hat den…”
“Also wenn wir ein Zimmer haben, dann setze dich hin und trinke deinen Kaffee aus! “
Mit Tränen in den Augen ihr letzter Versuch: “Ja, aber er…”
Zu Oma gewand, „Logisch waren es Westmark, denn mit Ostknöppen wäre ich beim besten Willen nicht in der Lage gewesen ihn zu bewegen, mir auch nur ein Ohr zu leihen…”
Nun fuhr Gabi mir über den Mund und bremste mich aus. Für meine Großmutter schien nun alles erledigt, aber Lanta saß da, verstört mit einem Ausdruck im Gesicht, den ich nur einmal, vor sehr langer Zeit bei ihr bemerkte:
(Von Teilen des Geldes zur Jugendweihe wurde eine Kofferheule angeschafft. Während eines Besuches bei den Großeltern war ich mit dem Radio auf dem Bauch eingepennt. Lautes Gekeife weckte mich, triumphierend schwenkte sie den Transistor in der Hand: “Ich habe es immer gewusst, dass du dich nicht an dein Versprechen halten würdest, keine Westsender zu hören. Dieses Radio siehst du nie wieder!”
BBC lief noch, denn seit geraumer Zeit verfolgte ich regelmäßig, ab dreiviertel acht den täglichen Sprachkurs. Mit einem Schlag hellwach, sprang ich auf und versuchte heulend ihr den Kasten zu entreißen, in diese lautstarke Rangelei platzte mein Großvater und wollte wissen was anlag.
“Opa, der Junge hört den größten Hetzsender den es gibt! Den Londoner Rund­funk!”
Bitte denke daran, während des Krieges hast du ihn doch auch gelauscht!”
Dies war zu viel, außer sich, schrie sie ihren Vater an: “Aber Opa! Damals waren es schließlich ganz andere Zeiten! Das Radio kommt weg!”
Schon als Kind konnte ich immer wieder in der Familie Auseinandersetzungen zwischen beiden verfolgen. Er alter Sozi, seit Hallenser Studentenzeiten mit Kurt Schuhmacher befreundet und sie Stalinistin. An die­sem Tag erreichten beide den Gipfel ihrer ideologischen Zerwürfnisse. Mein Großvater griff das Radio, das sie in diesem Moment noch fester umklammerte und fragte mich, ob die Anschuldigung stimmen würde, kleinlaut nickend kam von mir, ” ja”. Seine nächste Frage betraf die Sendung die gerade lief. Schluchzend erfolgte die Antwort. Dann zu seiner Tochter gewandt, “Lanta, du musst endlich mal begreifen, dass es auch Dinge gibt, die man vom Klassenfeind lernen kann!”
Sie ließ das Radio los, schlug ihre Hände vors Gesicht und rannte aufheulend aus dem Zimmer. Opa stellte das Teil, ohne noch ein Wort zu sagen, auf den Tisch und ging.)

Genauso, wie damals kam sie mir jetzt vor, ich hatte in diesem Moment sogar et­was Mitleid, was allerdings nicht lange anhielt.
Anschließend brachte Großmutter einen zaghaft geäußerten Wunsch vor, sie wollte sich gerne die Burg und den Veitsdom anschauen.
Nach meiner nächsten Aktion gab es Zeck mit Gabi. Sie reagierte ähnlich wie mei­ne Mutter, und fuhr schließlich nicht mit, denn ich hatte wieder gezielt westliches Mammon ins Spiel gebracht. Mir war es gelungen einen Taxifahrer aufzutreiben, der für 30 DM bereit war, uns zwei Stunden durch die Stadt zu chauffie­ren. Dieses Schlitzohr hinterging mich allerdings leicht. Geil auf das Geld bejahte er meine Frage ob er etwas deutsch oder englisch verstehen würde. Dies bekam ich freilich erst mit, als wir in der Droschke saßen. Aber der Mann sprach sehr gut russisch. Diese Tatsache verschaffte mir ein merkwürdiges Erlebnis. Mit meinen Polnischkenntnissen vermischt, kamen wir ausgezeichnet klar. Unser Fahrer ent­puppte sich als professioneller Stadtführer mit Blick für Kleinigkeiten. Es war eine phantastische Tour, bis ich mitbekam, dass sich meine Mutter hinten mit selbstgefälligem Ausdruck an meinen Übersetzungen labte. In ihren Augen las ich nicht diesen Stolz so von Mutter zu ihrem Sohn. Mir kam es vor, dass es ihr wichtiger schien, dass ich die Sprache ihrer Klassenbrüder beherrschte, was sie mir sicher nie zugetraut hätte.
Diesem Vorurteil meinerseits schien sie in den nächsten Stunden noch viel Nah­rung zu geben, besonders als wir anschließend bummeln gingen. Unsere zwischenmenschliche Beziehung wurde ewig krankhaft vom Ost-West­konflikt beherrscht. Auch während ich das erste und einzige Mal mit meiner Großmutter Arm in Arm durch Prag spazierte, mit einem Draht zueinander, wie seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Dies schien ihrer Tochter zu kränken, denn sie stand außen vor.
(Was sollte es, schließlich war sie jahrelang, nach Besuchen bei meiner Schwester in Ostberlin, weiter in Richtung Hamburg durch Westberlin gefahren und dabei nie auf die Idee gekommen, sich auch nur einmal bei mir blicken zu lassen.)
Ihre anhaltenden verbalen Spitzen, begannen sogar Oma zu nerven, dass sie bat, mit dieser Sache aufzuhören. Schmollend gab sie eine Weile Ruhe. Nachdem wir uns auch eine U-Bahnstation angeschaut hatten, wollte meine Großmutter nur noch den kurz vorher eröffneten Hauptbahnhof sehen, „da er so hübsch gestaltet worden sein soll.“
Nach kurzer Zeit ging ich in die Luft. Meine Alte hatte begonnen während der Besichtigung ein paar Briketts nachzulegen. Oma zottelte an mir rum, so als Hinweis, lass sie doch reden!
Schau doch mal! Der schöne Marmor! Die schicken Lampen, die allgemeine Gestaltung, die großzügigen Fahrkartenschalter, die vielen Automaten, die vielen Rolltreppen und, und, und… Junge, gib doch endlich mal zu, dass nicht nur der Westen in der Lage ist so et­was Tolles zu bauen!”
Jetzt reichte es mir, ich brachte Oma zu einer Bank und forderte meine Mutter barsch auf, mir zu folgen, zeitweise schubste ich sie dann vor mir her.
So jetzt möchte ich mal was ablassen! Der Marmor auf dem du rumlatschst, stammt aus Italien, und jetzt öffne deine Augen sehr weit! Dort die Technik kommt von AEG, Siemens und Bosch. Sogar das Papier, auf dem sie die Fahrkarten drucken wird aus dem Westen geliefert.”
– An der Rolltreppe angekommen, wies ich auf die eingelassenen Logos.
Keine Schraube, die du hier siehst, stammt aus dem Osten! Sogar zum Zement hei­mischer Produktion hatten sie kein Vertrauen! Zur Planung haben sie West­technik herangezogen. Finanziert wurde der Laden mit Krediten, die das Tschech­land in Dollars und D-Mark zurückblechen muss!
Hier höre ich auf! Bitte dich allerdings, oben mal anzuschauen, wie diese schöne Stadt seit Jahrzehnten zerfällt. Das ist der Osten! So seid ihr Kommunisten! – Keine Butter, keine Sahne, aber auf´m Mond die rote Fahne…”
(Bis zur Abreise war es mir damit gelungen, ihr Mundwerk in diese Richtung zu versiegeln.)
Ich ließ sie stehen und holte meine Großmutter.
Wieder im Hotel interessierte mich natürlich brennend, wie sie es angestellt ha­ben, hierher zu kommen, denn mir war bekannt, dass sie von meiner Schwester aus Berlin kamen.
Oma schilderte mir das Drama ihrer Abreise, trotz eines zaghaft vorgebrachten Einwandes ihrer Tochter.

Kurz vor der Abreise nach Berlin, gab meine Großmutter die Parole raus: “Zu Ostern treffe ich mich mit Klaus in Prag, du hast bis Freitagabend Zeit, dies deinem Schwiegersohn zu vermitteln!!!”
Bis zum verabredeten Termin geschah nichts.
Samstag, beim Frühstück, bemerkte meine Schwester eine merkwürdige Gespanntheit.
Los Lanta sag es!“
Meine Mutter sprang schluchzend auf und verschwand. Oma wand sich an meiner Schwester und ihrem Mann: „Damit ihr Bescheid wisst, anschlie­ßend fahre ich zum Bahnhof, besorge mir eine Fahrkarte, um mich morgen mit Klaus in Prag zu treffen!“
Totenstille.
Oma stand auf und begann sich anziehen.
Was ist denn los Oma?“
Ich will zum Bahnhof!“
Jetzt brach ein Sturm los, Geschrei, Wimmern, hysterisches Geflenne. Zwi­schendurch betrat meine Mutter wieder das Zimmer.
“Was ist Lanta, kommst du mit? Er ist schließlich dein Sohn!”
Augenblicklich verstellte mein Schwager die Tür. Während seine Frau die Kinder in ein anderes Zimmer bugsierte, legte das Arschloch los.
Oma, wenn du dich mit diesem arbeitsscheuen Knastrologen triffst, darfst du die Schwelle meiner Wohnung nie mehr übertreten!!! Überlege es dir sehr gründlich!“
Dies war zu viel für die alte Dame.
Er musste das Gesagte es nochmals wiederholen. Was er freudig tat.
Nun legte Oma ganz ruhig los:
Mein lieber Wolfgang! Ich bin nicht nachtragend. Aber nun bist du zu weit gegan­gen! Wenn ich diese Wohnung jetzt verlasse und nicht mehr hier erscheinen darf, dann kommt so einiges, was ich für euch angeschafft habe mit. Ich hoffe ihr habt nicht vergessen, wie viel Geld ich in eure Behausung gesteckt habe! Es fängt bei den Dederon-Gardinen für ein paar tausend Mark an! …soll ich weitermachen?!?“
Sie schaute in die Runde, keiner sagte etwas.
So Lanta, kommst du nun mit? Und du, aus dem Weg!“
Oma! Überlege es dir noch mal, wenn das rauskommt, dass ihr illegalen Kontakt mit so einer Person aufnehmt, dies kann mich meine Arbeit kosten! Ich muss Mel­dung auf der Dienststelle machen! Bitte…!!!“
Dies ist alles ganz einfach. Du erzählst keinem, mit welcher Person wir uns treffen wollen. Von mir wird niemand etwas erfahren, von Mutti auch nicht!“ (Wobei ich mir da nicht so sicher war.)
Die alte Dame schob den Mann meiner Schwester beiseite, gab ihrer Tochter ein Zeichen, die folgsam angetappt kam, und gemeinsam holten sie die Fahrkarten. In den folgenden Stunden bis zur Abfahrt am nächsten Tag brannte die Luft.

Meine Mutter unterbrach sie bei ihren sehr detaillierten Schilderungen nicht, auch hakte sie später nicht ein, wenn ich Fragen von Oma beantwortete. Aller­dings hat Großmutter es nicht ganz gerafft, warum mich die Organe nie in Ruhe gelassen haben, obwohl ich niemals kriminelle Dinger drehte. Trotzdem stand ihre Tochter vorbehaltlos auf dem Standpunkt, dass ich mich, mit meiner Lebens­weise laut DDR-Gesetzgebung ewig strafbar machte. Oma akzeptierte es auch irgendwann, dass ich von dem Land, in dem ich 26 Jahre verbrachte, nur vom „Schweinestaat“ oder der „Zone“ sprach.
Zwischendurch ließ sie ab, “Wenn nur einiges von dem stimmt, was das Jung­chen mir jetzt erzählt hat, dann kann ich ihn verstehen, warum er nach dem We­sten wollte.”
(Auf die Retourkutsche „meiner Mutter“ brauchte ich nur wenige Monate warten. Die Mittei­lung vom Tod meiner Großmutter erhielt ich erst ein halbes Jahr später, außer­dem transferierte sie das geerbte Bargeld auf ein Konto meiner Schwester, “Damit, falls mir etwas passieren sollte, Klaus davon keinen roten Heller zu sehen bekommt!”
– Dann folgte eine Zeit, in der sie mit ihrer Tochter, lange kein Wort wechselte und anschließend Monate um Geld betteln musste, als ihre Waschmaschine den Geist aufgab.)

Am Tag der Rückreise gab es noch etwas Loriotmäßiges.
Stunden vor Abfahrt des Zuges hockten wir schon auf dem Bahnhof. Meine Mut­ter wuselte herum wie ein Eichhörnchen. War mal eine viertel Stunde weg, tauch­te kurz auf, meinte zur Oma nur resignierend, “nichts!”, und verschwand wieder.
Dies wiederholte sich mehrmals.
Großmutter, ob dieser Geschäftigkeit angesprochen, rückte nicht mit der Spra­che raus, daran hinderte sie ein Versprechen, welches sie vorher ihrer Tochter gab, mir auf keinen Fall mitzuteilen um was es ging.
Schließlich reichte es, da sind wir Stunden zu früher Stunde auf dem Bahnhof er­schienen, und jetzt musste ich feststellen, nur deshalb, weil die Frau etwas ganz Geheimes besorgen musste…
Ich bestand auf einer Erklärung.
Nach einigem Hin und Her – vorher musste ich noch zusichern während ihrer Aufklärung nicht in Lachen auszubrechen, trotzdem schossen mir die Tränen in die Augen. Beim ersten Teil der Schilderung verstand ich die Welt nicht mehr. Die ganze Zeit versuchte meine Mutter krampfhaft, Nuckel für Babyfläschchen zu ergattern, was ihr aber nicht gelang. Meine Schwester besaß mehrere dieser Fla­schen aus tschechischer Produktion, und es wurden immer mehr. Das eigentliche Verschleißteil gab es in der Zone nicht. Oder besser gesagt, nur mit Fla­sche unten dran.
Meinen Einwand, dass ich, falls sie es wünschte, ein Paket mit Flaschen und mehre­ren hundert Nuckeln loslassen könnte, wurde abgelehnt. Es ging nicht an, bei der Position die das Arschloch innehatte, dass seine jüngste Tochter ihre oralen Bedürfnisse an einem Plastikteil westlicher Produktion befriedigen sollte.
Von Oma kam die zündende Idee. Ich sollte das Zeug an Ruth, der Freundin meiner Mutter schicken, und die müsste dann erzählen, dass sie das Zeug besorgt hätte. Offenbar schien immer noch nicht alles erledigt.
Großmutter ließ einige Male ab. “Los Lanta rücke mit der anderen Sache auch raus!”
Erneut das gleiche Spiel wie vorher, und nochmals von mir ein Meineid. Oma nahm die Angelegenheit in ihre Hände. Sie holte sehr weit aus. Ihre jüngste Urenkelin zog sich vor Wochen durch das Windeln einen entzündeten Hintern zu, der auch nach wochenlanger ärztlicher Behandlung nicht heilte. Unbedarfterweise ließ die behandelnde Kinderärztin einen Klops ab. Ob ihres Misserfolges, was die Heilung betraf, fragte sie bei meiner Schwester an, ob es denn keine Westverwandtschaft gab, denn Penatencreme würde das Übel sofort beseitigen.
Da hakte meine Mutter ein, “war das nicht eine Frechheit, Jun­ge?” Ich prustete so laut los, dass sich die Nachbarn erschrocken zu uns umdreh­ten. Omas Augen lachten auch, Lanta verließ für eine Weile den Saal.
In die Lösung mit den Babyfläschchen wurde das Penatenzeug mit einbezogen. Nebenbei wollte ich noch wissen, welches denn nun die Position vom Schwager war, aber auch Oma rückte damit nicht raus, so zog ich die Schlussfolgerung, dass er bei der Stasi sein musste. War mir auch egal, denn wie er in meiner Erinnerung erschien, stand er immer unterschiedlich. Mir ist unbekannt, ob er jemals erfuhr, wie alles zusammenhing. Jedenfalls wurde wenigstens dieser kleine, rote DDR-Bürger-Arsch mit westlicher Hilfe zur Gesundung gebracht.

So merkwürdig wie sich die Osterwoche in Prag vom ersten Tag an gestaltete, klang sie schließlich aus.
An unserem vorletzten Tag stellten sich bei meiner Freundin die monatlichen Unpässlichkeiten ein, die immer mit Schmerzen verbunden waren. Deshalb wollten wir nach Ostberlin zu fliegen. Da es für mich, außer dem Transit von Wessiland nach Westberlin, keine andere Durchreisemöglichkeit gab, versuchten wir, auf der bun­desgermanischen Botschaft Erkundigungen einzuholen. Von dem Flug nach Schönefeld wurde abgeraten. Nach deren unverbindlicher Auskunft, würden mich im schlimmsten Fall die DDR-Behörden über Nacht einbuchten, und am folgenden Tag in einem anderen Flieger retour schicken. Dies schien für mich kein Grund auf den Flug zu verzichten. Also beschlossen wir, es darauf ankommen zu lassen.
In Berlin wurde gleich unten an der Gangway die Spreu vom Weizen getrennt. Außer ein paar Afrikanern waren Gabi und ich die beiden einzigen Weißbrote, die nach Westberlin ein Transitvisum benötigten. Im Gegensatz zu den anderen Mitreisenden sollte unser Weg nur die paar hundert Meter direkt nach Rudow gehen. Als erste mit dem Ausfüllen der Anträge fertig, gings zum Abfertigungsschalter.
Ein sehr wichtig tuender Uniformierter nahm die Papiere, schlug den Ausweis auf und im gleichen Augenblick kam der Spruch: „Herr Ring, treten sie beiseite, sie werden gesondert abgefertigt!“
(Diese Art von Sonderbehandlung widerfuhr mir nicht nur an der Zonen- Grenze. Mehrfach erlebte ich Ähnliches im anderen Teil Deutschlands, mit fast identischen Sprüchen. In den West-Medien wurde behauptet, dass die Ostgrenzer Markierungen in den Ausweisen vornahmen. Dies kann schon möglich gewesen sein. Ich bin aber der Meinung, dass der Westen mit dem Osten gekungelt hat und von ehemaligen Ostlern insgesamt die Ausweise gekennzeichnet wurden. War schon merkwürdig, wenn auf der Rheinbrücke bei Kehl der Grenzbeamte nur den Ausweis aufschlug, und mir gegenüber in schwerverständlichem deutschem Slang abließ:
Sieh da, wir stammen ja aus der Zone. Oder als ein bayrischer Genosse, der ebenfalls nur den Pass aufschlug, sofort abließ: Es sind immer die Gleichen, die irgendwo aufmucken! Wegen meiner Frage, ob er was gegen Preußen habe, da er sich damit seine Zeit vertrieb, indem er breitbeinig mit Feldstecherbewaffnung, aus einer langen Autoschlange nur Wagen mit Berliner Kennzeichen rausfischte. )
Meine Freundin bestand gleichfalls auf die Sonderbehandlung.
Wenig später begann die separat Abfertigung, natürlich von Grenzern mit viel Lametta auf ihren Jäckchen. Ob ich denn nicht wüsste, dass ich von dieser Art Transit ausgeschlossen sei – natürlich wusste ich es nicht!
Eine Einzelbehandlung sollte nun beginnen, worauf sich Gabi nicht einließ, sie wurde sehr bestimmt und langsam ungehalten, was für mich das Signal war, mit Sprüchen zu beginnen.
” Ihnen dürfte ja bekannt sein, dass wir die Möglichkeit haben, sie nach Prag zurückzuschicken!”
” Feiglinge!”
Nun folgten Belehrungen, die etwas länger dauerten, da ich die Leute bat, sich kurz zu fassen. Ausnahmsweise wollte man dieses Mal eine Transitgenehmigung erteilen. Unsere Papiere aber erst im Transferbus nach Rudow erhalten, anschlie­ßend war noch die Kontrolle der Rucksäcke angesagt. Dazu kam es nicht, denn ich gewahrte, auf dem Transportband endlos kreisend, meine auseinander geris­senen Klamotten. Dies war der Anlass, den mich begleitenden Genossen lautstark zu belegen.
“Gehört denn Tucholsky, bei euch nun auch schon zur Schmutz und Schundlite­ratur? Obwohl ich dieses Buch in Prag erstand und es sich um ein Ostberliner Produkt handelt?”
Mehrere andere Bücher kurvten ebenso dreckig und angerissen auf dem Band. Beim wiederholten Rucksackpacken ließ ich mir sehr viel Zeit, verscheuchte nebenbei den Zöllner, der sich an meinem Kram zu schaffen machte.
“Hör mal zu, deine Genossen haben doch schon alles durchschnüffelt, was wohl unschwer zu erkennen wäre. Du kannst mir höchstens helfen, mein Zeug zu ver­stauen, ansonsten hau ab!”
Nun gab´s Ärger mit meiner Freundin, weil ich nach ihrer Meinung nicht die feinste englische Art gebrauchte. Es stimmte, der jungsche Spund war wirklich nett, aber ich verachte “nette Leute”, denn für mich handelte es sich bei ihm um einen Zollknecht, der scheinbar schon immer in fremder, dreckiger Wäsche wühlen wollte.
Meine Bemerkungen perlten an dem Zöllner ab, egal was ich auch abließ, er blieb freundlich. Zuvorkommend bot er sich auch noch an, mich zum Reklamationsschalter zu begleiten, was ich mir verbat. Mit den deformierten Büchern machte ich mich in die Spur, er dackelte hinterher. Zwischendurch drehte ich mich blitzartig um und wollte von ihm wissen, ob er denn keinen anderen zum Spielen fand.
Es kam ein entwaffnendes Lächeln, er hatte gewonnen, und außerdem fand ich anschließend mein nächstes Opfer. Es handelte sich dabei um eine Frau, die mei­ne Beanstandung wegen der beschädigten Lektüre entgegennehmen sollte. Sie, hinter Panzerglas verbarrikadiert, versuchte, mich chefmäßig abzufertigen. Im er­sten Moment nahm ich an, dass es sich bei ihr um eine Kinokartenverkäuferin aus dem finstersten Connewitz (Ein Stadtteil von Leipzig, wo ein Haufen Freunde von mir wohnten.) handelte. Auf die Frage, warum sie nicht deutsch sprach, kam nur, dass ich, wenn ich etwas von ihr wollte, schon mit ihrem Dialekt vorlieb nehmen müsste. Also, die Regressforderung in Bargeld zu erhalten, ginge auf keinen Fall, aber es wäre möglich, ein Konto bei der Staatsbank der DDR einzurichten, und über die­ses Geld dürfte ich dann bei meiner nächsten Einreise verfügen.
“Sag mal, Mädelchen, willst du mich verscheißern?”
Den Hinweis, dass ich hier in ihrem Arbeiter und Bauernparadies den Status einer Persona non grata besaß, ließ sie nicht gelten. Es wäre aber auch möglich, das Geld z. B. für einen Freund anzulegen, der es während eines Besuches in unserer Deudsch Demogradschen Reblig ausgeben könne.
Darauf verzichtete ich dankend.
Wieder bei Gabi in der Halle, eröffnete sie mir, dass der nächste Bus gegen Mitternacht fahren würde. Also noch über vier Stunden Zeit und die musste doch ir­gendwie rumgebracht werden. “Jetzt möchte ich doch mal ausprobieren, wie lange es dauert, bis so ein Grenzfromms auftaucht, wenn ich hier rumstiefele.”
Kaum in Richtung Ausgang unterwegs, befand sich jemand neben mir, der mich höflich daran erinnerte, dass ich ohne Papiere polizeipflichtig sei und folglich den Wartebereich nicht verlassen dürfte.
Immer wieder gab es Leute die für meinen Hader grinsend Verständnis aufbrachten, im Gegensatz zu meiner Freundin, der langsam die Gesichtszüge entglitten. Nun folgte ihr Auftritt. Entgegenkommend erkundigte sie sich nach der Möglich­keit, mit einem Taxi bis an die Grenze zu fahren. Auflachend kam vom mir der Tipp, dem Genossen zu erklären, um welche Art von Fortbewegungsmittel es sich da handeln würde.
Es wäre auf keinen Fall möglich, jemanden separat an den Grenzkontrollpunkt zu fahren
Der Uniformierte war schon im Begriff zu gehen, als sie sich nach dem Roten Kreuz erkundigte, denn unerträgliche Unterleibsschmerzen fingen an, sie zu plagen. Normalerweise könnten ganz bestimmte Tabletten Abhilfe schaffen, die lägen aber zu Hause rum. Ohne auf die Frage einzugehen, trollte der Genosse sich und stand kurz darauf wieder da, mit der Information, dass man uns ausnahms­weise und auf der Stelle abschieben wollte.
In einem Barkas(Barkas – Kleinbus aus DDR-Produktion, ugs, auch Zonenbulli) mit Interfluglogo gings sofort in Richtung Grenze.
Auf einer betonierten Schneise, rechts und links mit Stacheldraht verziert, wur­den uns die Papiere ausgehändigt und als wir aus dem Fahrzeug stiegen, gingen ringsum Scheinwerfer an, so gleißend, dass fast nichts zu sehen war. Während das Fahrzeug beidrehte, bat mich Gabi inständig, in dieser Situation keine Sprü­che abzulassen.
In Bruchteilen von Sekunden war ich von Null auf Hundert. Diese dämliche Braut, da glotzten uns aus der Dunkelheit zig Mündungen der berühmten AK 47 an, ringsherum heulten Hunde, im Rücken die Geräusche vom Flughafen, wem sollte ich denn hier und in diesem Augenblick einen Kommentar angedeihen lassen? Momentan war das HB-Männchen ein Scheißdreck gegen mich, aber aus tausenden von Gründen hätte ich zum Rocker werden können.
(Mir kam bisher nur einmal so ein flaues Gefühl im Magen hoch, zwei Jahre vorher, beim Überschreiten der Grenze, nahe Strabane, während meiner Einreise von Donegal nach Nordirland.)
Dann erreichten wir einen Streckmetallzaun, wobei etwas Rolltorähnliches die weiterführende Straße blockierte. Irgendwoher, ganz in unserer Nähe, quäkte plötzlich blechern in mitteldeutschem Slang die Frage, was unser Anliegen sei.
Während ich Luft holte, krallte sich Gabis Hand in meinen Bart, um mir den Mund zu verschließen.
Nun war alles zu spät, was sollte in dieser Situation solch bescheuerte Frage. “Ich wollte mir nachts mal den Zaun ganz allein mit meiner Freundin von der anderen Seite anzuschauen. Sie werden es sicher nicht glauben, aber in der Abflughalle des vor ihnen liegenden Feldflughafens, trafen wir auf sehr nette Leute, die uns dabei unterstützten,” kam so laut, wie es im Rahmen meiner etwas eingeschränkten Möglichkeiten machbar war. Prompt begann meine Freundin mit Tränen in den Augen, mit mir zu zetern. Fast am Rand eines Nervenzusammen­bruchs brachte sie die Tatsache, dass auf jeden Satz von ihr ein Kommentar meinerseits folgte. Schließlich gab ich nach, und ihr sogar Recht: Denn es lag halt nur an meiner infantilen Art, dass wir auch hier wieder so lange warten mussten!
(Weder sie, noch andere Freunde und Bekannte aus Wessiland, haben je geschnallt, was sich bis zum Schluss, bei innerdeutschen Grenzüberquerungen, für eine Wut in meinem Bauch befand. Nie ließ ich dabei etwas anbrennen. Immer wieder wurde bei Transitfahrten an mich appelliert, die Schnauze zu halten. Was mir in den seltensten Fällen auch gelang. Es sei denn, ich lag pennend, bezecht oder bekifft im Fond eines Hirschleins.
Alles änderte sich schlagartig, als im Osten mit der Dienstanweisung raus kam, dem Klassenfeind etwas freundlicher entgegenzutreten, und diese Direktive war nur den Milliardenkrediten von F.J.S. zu verdanken.
Eine von mir penetrant angebrachte Nichtigkeit brachte die humorlosen, unifor­mierten Arbeiter und Bauern fast zehn Jahre endlos in Rage. Seit Anfang der Achtziger rasierte ich mir, bis auf den Rest eines Teil-lrokesen-Scheitels, meine Birne und trug im einen zweizöpfigen Bart. Wenn mich Grenzer während der Abfertigung lange fixierten und ewig mein Aussehen mit dem Passbild verglichen, auf dem ich noch mit langen Haup­t- und Gesichtshaar auch ohne Schieleisen abgelichtet war, begann ich im Gegenzug ihre drögen, gewichtig aufgesetzt­en Minen zu kopieren. Zwischendurch schielte ich und grinste sie unverschämt an, was viele verunsicherte, aber meinen Mitfahrern verborgen blieb. Oft kam dann noch: “Setzen sie bitte mal ihre Brille ab!”, prompt kam von mir sofort die Ge­genfrage: “Soll ich auch ein Ohr freimachen?”
Jedenfalls habe ich nie verstanden, warum sich Hunderte von Millionen Transitreisende, jede Schikane aus dem Osten gefallen ließen. Politisch, speziell ökonomisch wurde ja zwischen den Staren beider deutschen Staaten immer alles abgekaspert. Was an den Grenzen passierte, brauchte jene Politiker nicht zu interessieren, denn die verfügten schließlich über Luftbrücken.)

Da Gabi auch zu diesen, ewig mit Bammel behafteten Wessis gehörte, ließ ich sie schließlich ihren übertrieben höflichen, untertänigen Salm ablassen. Das Tor öffnete sich summend einen Spalt, vorsichtig ging es weiter. Dann über Megaphon die Anweisung, dass wir schneller gehen sollten, schließlich könnten sie sich nicht stundenlang mit uns befassen.
“Schon klar, die Nasen müssen das Tor wieder dicht machen, weil es zieht!”
“Du Idiot, halt deine Schnauze!”
Ohne weiteren Wortwechsel wurden wir unsere Papiere los. Hinterher öffnete sich das nächste Tor in 30 bis 40 Metern Entfernung.
Niemandsland
Dann Bitumen unter den Hufen. Die westliche Seite.
Kam man vom Osten, stand auf der linken Seite vor dem großen Wendekreis eine Butze der Polizei, etwas weiter vorn rechts befand sich die Bushaltestelle des 41ers.
Froh, endlich im Westen zu sein, schlamperten wir mitten über die der Straße diagonal in Richtung Haltestelle, da kam aus dem Häuschen die Frage, wieso wir um diese Zeit allein und zu Fuß aus dem Osten kämen.
“Dass kann ich euch sagen. Wir haben eine feuchte Wohnung, sind deshalb ein bisschen spazieren gegangen und haben uns dabei verlaufen!”
Meine Antwort schien die Jungs nicht zu befriedigen.
Gabi übernahm die Regie.
(So groß ist der Unterschied nicht bei Leuten, die freiwillig in eine Uniform kriechen, es ist auf beiden Seiten ein ganz bestimmtes Klientel, das sich dafür hergibt. Deshalb gleichen sich die Reaktionen.)
Versöhnlich stimmten mich die beiden mümmelnden GIs etwas abseits vor der Haltestelle. Einer lehnte gelangweilt am Jeep, der andere saß auf der Beifahrer­seite, auf dem Fahrersitz lag ein Backgammonspiel, nur das Klappern der Würfel und leise Musik drangen herüber.
Noch während wir auf den Bus warteten, kam durch die Mauer eine etwas klapprige Wessi-Ente gekrochen.
Die Polizisten winkten sie zu sich ran, alsbald entwickelte sich dort ein geräuschvoller Disput, der damit endete, dass der Fahrer nach dem Einsteigen sehr laut seine Tür zuknallte, dann auf die andere Straßenseite fuhr und bei uns hielt, um sich zu erkundigen, wie er am schnellsten nach Charlottenburg käme.
Da es unsere Richtung war, fuhren wir gleich mit. Als er seine Bekannten nicht erreichte, bekam er von uns politisches Asyl.
Der Kumpel, im Ruhrpott beheimatet, war schon seit geraumer Zeit überfällig. Am Nachmittag aus Polen kommend, sah er irgendwann ein Schild mit der Aufschrift: – Berlin – und war deshalb schnurstracks in Richtung Grenze gepeest.
Aber Scheibenkleister!
Auf der Ostseite nahmen sie die Karre auseinander, wurde stundenlangen Verhören ausgesetzt und musste als Krönung noch 300 DM Strafe zahlen, wegen „unberechtigten Verlassens des Transitweges“.
“…dann diese dämliche Frage der West-Bullen, wieso ich hier einreisen würde, wenn ich aus Polen käme?”

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