SÜDGELÄNDE – Nachtrag

Mehrere Jahre, ca. 1978-84, war es am ersten Weihnachtstag Brauch, eine Wanderung auf der verwachsenen Bahntrasse zu veranstalten. Meistens begannen wir den Aufstieg an den Yorkbrücken, manchmal bereits am Anhalter Bahnhof. Je nach Lust und Laune ging die Tour bis weit hinter den Priesterweg. Das anschließende Kaffeetrinken, zum Aufwärmen, endete regelmäßig am nächsten Morgen. Zwischendurch betätigte ich mich für mutigen Wessibesuch auch zu anderen Zeiten als Scout, denn es mussten bestimmte, recht unverständliche Verhaltensregeln eingehalten werden. Die ostdeutschen Bahnwächter traten grundsätzlich im Duo auf, richtige Recken darunter, denen man aber anmerkte, dass mehr Wert auf Muskelmasse und Ideologie gelegt wurde, als an ausgeprägtere Gehirnwindungen. Ihre Bewaffnung bestand aus etwas längeren Knüppel, habe es aber nie erlebt, dass jemand damit zuschlug. Es war recht einfach, sich aus ihren Fängen zu befreien. Tauchten sie unverhofft auf, liefen alle in verschiedene Richtung auseinander. Gelang ihnen doch ein Fang, musste das Opfer wie am Spieß schreien, nebenbei wurde alles mit den Kameras, aus sicherer Entfernung dokumentiert. Natürlich durften dann auch die entsprechenden Sprüche nicht fehlen. Kurz darauf konnte man immer verschwinden, wurde allerdings auch des Bahnhofes verwiesen, – nix anschließende Fahrt mit der Elektrischen. Was sollten sie auch machen, das einzige, sie hätten uns an die Westberliner Polizei ausliefern können, das wäre aber Kollaboration mit dem Klassenfeind gewesen. Die Genossen durften ja noch nicht mal Ausweise kontrollieren, von uns besaß an solchen Tagen sowieso niemand irgendein Papierchen.
Nach 1984, als Honni im Westen die S-Bahn still legen ließ, wurde es auf dem Gelände richtig ruhig, obwohl sie wegen der Anlagen vermehrt Streife liefen. Mann, war dort alles rottig, überall stinkender Müll, in vielen kleinen Splitterbunkern und den Kellerräumen der zerstörten Bahngebäude. Reste von Altöl, Farben und dem ganzen Zeug, was in einem Großbetrieb anfiel… Zwischen den Gleisbetten Asche, Schlacke und immer wieder Öl- und Fettrückständen. Es gab Gebiete, da bereitete bei feuchtwarmem Wetter das Atemholen Schwierigkeiten, besonders um den Priesterweg herum.
(Wo bestimmte Kreise heute mit dem Begriff Sukzession rumhuren. Sich bannig freuen, wenn es ihnen gelungen ist, wieder mal irgendwo, über solche geschändeten Arealen das grüne Mäntelchen der Verdrängung und des Vergessens auszubreiten.)
– Ist es nach verwaltungsmäßiger Schönfärberei, bei Industriebrachen nicht erforderlich gleich Maschen- und Stacheldraht zu ziehen, wird ein Investor gesucht. Gelingt es nicht diese Flächen erfolgreich zu verschleudern, auch wenn man solchen Spekulanten noch zusätzliche Millionen unter ihre Vorhaut schieben würde, hilft nur Sukzession. Damit in den folgenden Jahren alles überwuchert, der Boden, die Vorgangsakten in den Ämtern und die grauen Zellen anderer Beteiligten.
Meiner Vermutung nach, wird es beim Südgelände folgendermaßen ablaufen: Da man munkelt, dass auf dem gesamten Territorium nie eine exakte Suche nach explosiven Hinterlassenschaften aus dem letzten Krieg statt fand, wird dieses Manko irgendwann der Grund sein, um alles zu schließen, wenn der Stahlpreis weiter rasant steigt. Denn im Boden befinden sich tausende Tonnen an Eisenbahnschienen, in einer Stahlgüte, die heute ohne weiteres, in diesen Mengen überhaupt nicht mehr herstellbar ist. (Wegen der Luftverschmutzung) Steuerzahler*INNERINNEN u.ä.  werden dann für Munitionssuche und Entsorgung des hochgradig verseuchten Bodens zu Kasse gebeten und der Rest wird seinen üblichen Gang gehen. Zu den Millionen Quadratmeter leer stehender Büroflächen, kommen neue hinzu. Direkt neben den Bahngleisen bieten sich auch Seniorenresidenzen an, statt Fernsehen dann ganztägig Züge glotzen, spart ein Haufen Pflegepersonal ein.
Keine Panik, mindestens zwei, drei Jahre ist noch Sukzession angesagt…
(Bestimmt wird etwas Ähnliches mit dem ehemaligen Salzbergwerk Asse in Niedersachsen passieren. Klare Luft ist zu Genüge vorhanden, es wird sich auch ein amerikanisches Gutachten finden lassen, welches belegt, das größere Dosen von Radioaktivität der Gesundheit sogar förderlich sind. In eben diese Richtung äußerte sich nach Tschernobyl der größte Atomphysiker Niedersachsens, Uschi von der Leyens Pappi. Angesprochen auf die Schädlichkeit von radioaktiven Fallout im Ländchen: „Mit Radioaktivität ist es wie mit Alkohol, in Maßen genossen, sind beide nicht schädlich…“)
– Ich finde es schon bemerkenswert, wie sich Pflanzen derartig Territorien zurück erobern. Auf seinen vielen Quadratkilometer Grenzstreifen, mit Herbiziden geficktem Boden dauerte es an manchen Stellen fast sechs Jahre, bis wieder eine durchgehende Krüppelgrünfläche entstand. (Nicht nur meine Beobachtung an der Potsdamer Chaussee in Gatow, da befand sich der Mauerstreifen gleich an der westlichen Fahrbahnseite.) Ist auch nicht von ungefähr, dass auf dem Südgelände massig Akazien anzutreffen sind, sie gedeihen auf total verseuchten Böden und sind Rauchresistent.
Gleich zur Eröffnung des Südgeländes, lag im dortigen Café und einer kleinen Dauerausstellung, ein fetter, in Leder gebundener Foliant herum, den sie natürlich angekettet hatten. Die Besucher durften sich darin mit Lobhudeleien verewigen. Die vorzufindenden Einträge waren an dümmlicher Unwissenheit nicht zu toppen!
Daraufhin nummerierte ich zuerst durchgängig sämtliche beschriebenen Seiten (Wie ich es zu meinen Zonenzeiten immer mit den Beschwerdebüchern tat.) und nahm dann Maß an der gutmenschelnden Sukzessions-Verbalhurerei vom BUND. Denn im Öko-Panoptikum wurde an die Besucher appelliert, die errichteten Traversen und anderweitigen Absperrungen nicht zu übertreten, damit sich die Natur vollkommen frei entwickeln konnte…
Als wahrer Grund galt aber nur eine fehlende, niemals stattgefundene korrekte Fundmunitionssuche! Nannte auch noch andere Fakten zum dortigen Areal. Wenn ich mich richtig erinnere, kalligraphierte ich damals alles in gut lesbarer lateinischer Schrift, nicht wie sonst immer in Sütterlin.
Kurz darauf besuchten wir das Gelände wegen einer Veranstaltung, natürlich war das Gästebuch dann verschwunden!

Zu den Fotos.
(Von einer Weihnachtstour mit sieben oder acht Leuten, Matsch und Nieselregen, da blieb mir etwas bestimmtes haften)

1.) Der längere Aufenthalt war schon gefährlich in den kleinen Splitterbunkern von etwa zwei Meter Höhe und keinen acht Quadratmeter Bodenfläche. Wer weiß wie viel Leute dort manchmal ausharrten. Zu meiner Zeit schien dieser bewohnt zu sein, vielleicht von Kids oder Obdachlosen.
2.) Als fast alle in einem deformierten Stellwerksgebäude rum schnakerten, war mir nach einem Mixhörnchen – Lachtürken mit Gras. Kurz darauf, breit wie jener Hamster, der sich auf einem Stück Reichsautobahn mit einem Y-ToursLeoparden anlegen wollte. In diesem Zustand  gewahrte ich an dem sehr gammeligen Gittermast nicht weit von dem Gebäude, etwa 5 Metern hoch, jene spätere Kopfbedeckung. Schon im Aufsteigen begriffen, stellte jemand fest, dass zwei Winkeleisen am Boden fast weggefault waren, also runter und gemeinsam versucht den Mast umzukippen. Es ging ziemlich schnell von der Hand, allerdings krachte das Teil mit riesigem Getöse in einen Schuppen, was dem Lampenschirm gut tat, allerdings zwei S-Bahnnasen auf den Plan riefen. Irgendjemand machte von mir dieses Foto (Ich glaube Det aus Krefeld) und flitzte sofort weg, weil blaue Ost-Jungs angerannt kamen…
Recht begriffsstutzig, machte ich das Beste daraus und lief den Genossen lachend, mit meinen noch zusätzlich erhobenen Händen entgegen. Blubberte auf dem Weg zum Bahnhof Priesterweg dämliches Zeug, und verteidigte dabei sehr aggressiv meine neue Kopfbedeckung. Endlich auf dem Bahnsteig, waren meine Bekannten alle abhanden gekommen. Schließlich tauchte einer nach dem anderen von unten, ganz zufällig wieder auf. Das war der Moment, als ich begann um Hilfe zu schreien, meine beiden Begleiter verstanden die Welt nicht mehr, denn sie spazierten ganz friedlich neben mir, ohne mich auch nur zu berühren. Das Rotkäppchen aus dem Abfertigungshäuschen sprang zu ihren Kollegen und flüsterte hastig etwas, daraufhin ein Griff und schon ging es gewaltsam über den Bahnsteig, die Treppe runter zum Ausgang. Nun ging der Terz richtig los, da ich die Bahn zur Rückreise benutzen wollte, standhaft verteidigten beide RBBs (Reichs-Bahn-Bullen) den Eingang. Schließlich erschien jemand mit Hang zur Harmonie (Ich glaube es war Meggi) und besänftigte mich. Gemeinsam ging es dann zum Insulaner, immer diesen gelochten Topf auf der Birne, der mir nachts schließlich irgendwie abhanden kam.

Brandneue Photos und Text vom S-Bahn-Urwald

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