Archiv der Kategorie: HUNDESCHEISSHAUFEN

in Berlin erinnern manchmal an Sachertorten / Geschichten aus den Coca-Cola-Sektoren und j.w.d.

Im Babylonischen Völkergemisch der “Sonnenschein GmbH”

Fußnote 1
In jener Zeit fand auch mal eine Gesamtbetriebsratsversammlung statt, mit Abordnungen aus dem Stammwerk in Hessen, den Niederlassungen und dem ganz großen Schefff, Herrn Dr. Schwarz-Schilling.
– Muss aber noch etwas einfügen.
In der Nachbarabteilung schubberte ein junger Türke, Anfang der 20er. Ein gutaussehender, sehr sympathischer Durchblicker aus Neukölln, mit finsterstem Berliner Idiom auf seiner Zunge.
Hauptschulabbrecher, in der Firma das absolute Arbeitstier, was ihm nicht nur Pluspunkte einbrachte.
Nebenbei hatte ihn auch der Hadschi aus der Pastiererei auf dem Kieker, wegen seiner Hobbys.
Unser junger Freund liebte riesige amerikanische Schlitten und blonde Mädels. In jeder freien Minute schraubte er entweder am kalten Metall oder am warmen Fleisch.
Einem türkischen Kollegen der IG-Metall war er mal aufgefallen. Jener sprach ihn an, ob er nicht Lust hätte sich weiter zu qualifizieren, um in der Perspektive als Dolmetscher zu arbeiten. Begeistert gab er vor Ablauf einer Bedenkzeit seine Zustimmung.
Fast unannehmbar war allerdings die Preisgabe seiner geliebten Straßenkreuzer.
Letztendlich erfolgte der Verzicht einer Gewerkschafterkarriere nach Beendigung jener großen Versammlung.
– Vorn an den Tischen umrahmten Gesamtbetriebsrat, Gewerkschafter aus Büdingen, Berlin, der Niederlassung und von der IG-Metall-Hauptgeschäftsstelle den große Geschäftsführer Dr. Christian Schwarz-Schilling.
An jenem Tag existierte sogar ein Simultandolmetscher für die türkischen Kollegen, ein junger Spund mit recht großer Klappe.
Nach dem üblichen Einleitungsgesülze las unser Betriebsratsvorsitzende den Rechenschaftsbericht vor, auf ein Zeichen hin sollte der Dolmetscher immer das Gesagte kurz zusammenfassen, als aus der Zuschauermenge ein Yugo rief, „Kollega, kannst du nicht sprechen deutsch?“
Was bis auf wenige Lacher, fast niemand registrierte.
In den hinteren Reihen machte sich langsam kichern breit, Auslöser dafür war meine Wenigkeit. Aus der Pudelmütze und zwei Kronkorken hatte ich ein Objekt gebastelt, was synchron die Mimik der Redner wiedergab.
Auf ein Nicken hin sollte die Übersetzung beginnen. Wie im Theater beim verpassten Stichwort, wurden die entsprechenden Kopfbewegungen heftiger.
Bis jemand den Dolmetscher heftig anstieß, „Kollege, du bist dran!“
Der stand auf, dabei hilflos in die Runde schauend, „was soll ich eigentlich Übersetzen? Ich habe kein einziger Wort verstanden, welche Sprache spricht dieser Kollege überhaupt?“
Dröhnend lachten die anwesenden Deutschen auf, bis schließlich alle wieherten.
Redner und Dolmetscher nahmen recht verunsichert, mit hochroten Köpfen, wieder ihre Plätze ein. Wobei der junge Türke absolut nichts raffte, sollte er nun wütend den Raum verlassen oder laut heulen, er bezog dieses Tohuwabohu einzig auf sich.
Als Schwarz-Schilling sich langsam erhob, natürlich mit lachender Mine, kehrte wieder Ruhe ein. Bis zu dem Zeitpunkt, als der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende zum Dolmetscher gewandt, ihm erklärte, was es mit der Sprache des Hauptredners auf sich hatte.
Der Mann war durch die Kriegswirren in Berlin gelandet. Sprach aber 30 Jahren später immer noch seinen absolut zerknautschten sächsischen Dialekt aus Kindheitstagen…

Fußnote 2
Yüksel Effendi

Telefongeschichten, aber dabei nicht vergessen: G-Punkt ist wesentlich reizvoller als T-Punkt!

Diese Erzählung handelt im weitesten Sinne von einem weit über hundertfünfzig Jahre altem Kommunikationsgerät, was in dieser Form auf unserer ERDENSCHEIBE im Aussterben begriffen ist, nämlich dem guten althergebrachten analogen Telefon, beginne allerdings beim tiefsten Urschleim.
Als Ostzonenableger wuchs ich in einem Haushalt auf, zu dem eine Anbindung an die große weite Welt gehörte!
Meine Großeltern nannten ein – noch aus Friedenszeiten stammendes – Telefon ihr Eigen. Was manchmal mehr Last als Freude darstellte, für unsere Familie oder den beiden bäuerlichen Nachbar­gehöften. Auf der anderen Seite in einer Mangelgesellschaft auch mit sehr vielen Vorteilen behaftet war, besonders für meine Schwester und mich, wenn wir den einen oder anderen Anwohner rasch benachrichtigen mussten.
Wir Kinder durften dieses kleine schwarze Wunderwerk nie selbstständig nutzen, auf der anderen Seite gab es in meiner Schulklasse sowieso fast niemand mit einem solchen Teil zu Hause.
Von Oma gab es immer mal wieder eine leichte Kopfnuss, wenn ich mich bloß mit „26 73“ mel­dete.
Dass mein Großeltern ein Telefon besaßen, ist dem Umstand zu verdanken, weil Opa ein hohes Tier in der Kupferhütte Artern war. Auch nach seiner Haftentlassung, dem vorherigen Kuraufenthalt in Bad Plötzensee, dann Zuchthaus Brandenburg, von 1935 bis 38, wegen Vorbereitung zum Hochverrat und an­schließendem Berufsverbot bis Kriegsende, wurden jene Drähte trotzdem nie gekappt. Dies wollten erst die Kommunisten in den 1950ern nachholen. Großvater, bereits VdN-Rentner, ließ damals einen Spruch ab, als der seiner Tochter zugetragen wurde – einem herben stalinistisches Rotkäppchen – sprang sie daraufhin im Karree.
Opa hatte die Stare vom Fernmeldeamt gefragt, weshalb ausgerechnet die Kommunisten auf die Idee kämen, ihm das Telefon wegzunehmen. Was noch nicht einmal die Nazis versucht hätten, ob­wohl es sich bei ihm doch um einen gefährlichen Volksschädling handelte!
Spannend wurde es immer, wenn die Familienmitglieder, manchmal tagelang auf einen Klingelton vom Amt harrten. Nach einem in die weite Welt angemeldeten Ferngespräches oder alle auf ein an­gekündigtes Gespräch lauerten und die Stunden dabei sehr träge zerflossen.
Dabei war die weite Welt immer der Westen!
Bei sehr wichtigen Angelegenheiten wurde ein Bereitschaftsdienst eingerichtet. Der Wachhabende schlief dann nachts auf der Chaiselongue in Großvaters Arbeitszimmer. War das stressig an solchen Tagen, es durfte das Radio nicht eingeschaltet werden, Oma die oft bei der Arbeit sang, war nervös und mit einem Ohr immer in Richtung Telefon. Machbare Arbeiten wurden dann in Opas kleinem Reich erledigt, z. B. gewisse Vorbereitungen für das Mittagessen oder angesagte Putz und Flickar­beiten am großen Schreibtisch erledigt. Jedenfalls musste sich dann allezeit jemand in der Nähe die­ses kleinen schwarzen Gerätes aufhalten. Einzig Opa ertrug alles mit stoischer Ruhe. Der stand dann stundenlang an seinem Stehpult neben dem Fenster und las, klingelte es, dann erfolgte der Griff zum Schreibtisch rüber. Niemals rastete er während seines Telefondienstes aus, schrie auch nie in den Hörer. Verließ allerdings immer kopfschüttelnd den Raum, falls die Verbindung unterbrochen wurde und die Frauen unter hysterischen Hallo-Hallo-Rufen, dabei wie von Sinnen, rhythmisch auf die Telefongabel droschen.
Als Kind waren für mich Telefonate mit Opas Freund aus Haifa immer das spannendste und unver­ständlichste, was diese Technik betraf. An solchen Tagen durfte ich mich in einem der Sessel ver­graben und am Rauchtisch meine Schulaufgaben erledigen, ohne diese dezent aufdringlichen Kon­trollen von Großmutter. Die folgenden Stunden verbrachte ich dann meistens mit Abpausen auf Per­gamentpapier, aus Napoleons Werken. Stiche mit Schlachtenszenen, berittene Mamelucken, grim­mig dreinschauende Osmanen die martialisch mit ihren Krummsäbeln hantierten oder irgendwas aus dem Brockhaus. Klingelte es, stand ich sofort am Schreibtisch vor dem Globus. Denn unbe­greiflich, kamen fremdländischen Laute aus dem Hörer sonst wo her, aber nie direkt aus Israel. Manchmal hielt Opa die Muschel in meine Richtung und gab bekannt um welche Sprache es sich gerade handelte. In der Regel war nach wenigen Sätzen immer alles unterbrochen, wenn dann nur noch minutenlanges Rauschen oder Knacken erfolgte, wurde aufgelegt. Hinterher sofort auf dem Globus das Anschleichen jener exotischen Stimmen erörtert. Manchmal ging es wieder retour oder sie näherten sich im Zickzack. Die weiteste Verbindung, aber nicht immer die schlechteste, kam über London, Moskau, Warschau, Ost-Berlin, Halle und schließlich nach Sangerhausen
Opa erzählte manchmal – nach Aussage seiner Tochter – großen Blödsinn, wenn er bemerkte, dass die Verbindungen nur deshalb immer so schlecht seien, weil sämtlich Geheimdienste der Welt sein kurzes Gespräch belauschen wollten. Daraus folgerten für mich merkwürdige Rückschlüsse, denn bei einem Anruf aus dem 50 km entfernten Halle oder einem Ort in der Umgebung war die Qualität teilweise noch mieser. Ganz zu schweigen bei dem Hin und Her der Verbindungen nach Hamburg und den ewigen Unterbrechungen dabei. Um ein Gespräch zu beenden, konnten schon viele Stun­den ins Land gehen. Nicht zu vergessen, die dabei parallel auftretenden Geräusche, dauerndes Knacken, Kratzten, Rauschen, das 50 Herzt Brummen, sowie unerwünschte Konferenzschaltungen mit Babylonischen Stimmengewirr. Um es kurz zu machen, ein Telefongespräch war schon ein rich­tiges Abenteuer, unter bestimmten Umständen sehr spannend und facettenreich…
Irgendwann, Anfang 1961, hatte gerade mit Radiobasteleien begonnen, da zapfte ich unser Telefon an, jener unerlaubte Informationsvorsprung ward nie zu unterschätzen! Dafür wurden lediglich zwei ganz dünne Drähte, von einem Trafo, an die Freileitung am Haus gerö­delt. Unter den Dachziegeln verlegt, endeten sie vom Boden aus in meinem Zimmer, der entstehen­de Sound kam dann aus dem 2000 Ohm-Kopfhörer. Die ganze Kabelage am Fenster war für Laien sowieso nicht durchschaubar, da endeten zwei verschiedenartig ausgerichtete Langdrahtantennen und jeweils zwei Pärchen aus Sprenglitze vom Schacht, an denen unten zwei Lautsprecher hingen. Der eine befand sich im ehemaligen Scharraum der Hühner, wo nun meine Karnickelställe standen, die andere Leitung ging in den Garten, zu meiner Bude unterhalb der Hofmauer…
Nach dem anschließenden Umzug in das südlich Gipsviertel, zwei Jahre später, folgte eine tele­fonlose Zeit. Im Wohnbezirk stand zwar eine Telefonzelle für kapp 1200 Einwohner, allerdings fehlte innen permanent das entsprechende Equipment. Im nach hinein kann ich mich überhaupt nicht erinnern, jemals dieses technische Wunderwerk intakt erlebt zu haben.

⸨Kein Wunder, plötzlich gab es die Animals, Beatles, Stones, aber in der Zone keine entsprechenden Gitarren.
Was wurde da gepfriemt, aus Reichsdeutschen Fundstücken kleine Verstärker gebaut, aus dem Zeug der Telefonzellen entstanden sowjetrussische Patente: Pickups für E-Gitarren.
Die seltsamste Form dieser Tonabnehmer bestanden aus 2000 Ω-Kopfhörern, die man an über den Körper der Konzertgitarre klemmte und damit sie nicht verrutschten, kam eine Fixierung mit Leukoplaststreifen. Dabei entstand ein Sound, der klang, als ob eine Ziege in einen Milcheimer schiss…
In der folgenden Datei findet man im letzten Absatz noch eine Bemerkung, zu meiner Gitarrenleh­rerin im Heim. Sie brachte mir auch das perfekte Klimpern bei, es betrafen: If I Had a Hammer, Blowin’ in the Wind und The House of the Rising Sun. Dann endete meine Musikerkarriere, zu Be­ginn der 10. Klasse, sehr tragisch.
Hatte in den ersten vier Wochen, der letzten Schulferien, fast 1000 Mark verdient und verbrachte anschließend zwei Wochen bei meiner damaligen Freundin.
Ende September, zwei Monat vor meinem 16ten Geburtstag (Bin 9 Stunden älter als der segelohrige Dünnbrettbohrer aus dem Buckingham-Palast.), ereilte mich die schaurige Nachricht, dass ihre Erdbeerwoche ausgeblieben sei…
Der Rest wäre aber eine ganz andere Geschichte!

Egal wo ich zu Zonenzeiten jobbte, jeder hielt sich die Leute mit Telefonanschluss nach draußen warm. Außerdem waren alle angeschissen, die sich während der Arbeitszeit nicht trauten die Ar­beitsstätte zu verlassen, wenn nach fernmündlichem Zuruf, für mehrere Stunden irgendwo Bück­ware harrte, Bücher, Platten oder Klamotten. Ganz wichtig schien mir immer der Draht zum Pferde­schlächter, bei dem musste man in kürzester Zeit auf der Matte stehen. Zossen kamen ihm fast nur im Monatsabstand unters Messer, bei der unstillbaren Nachfrage, schon ein leichtes Problem, außer­dem kostete alles verwertbare Zeug lediglich eine Mark das Kilogramm. (Für meine Pferdefleisch­köchelei besorgte meine Großmutter extra Töpfe und lagerte sie auch separat. Benutztes Werkzeug reinigte sie mit Todesverachtung und Abscheu sofort nach jedem Einsatz.)
Im altmärkischen Pfarrhaus (Ich zog dort mit zwei Kumpels im Herbst 1971 ein.) besaßen wir auch einen Anschluss, gedoppelt mit dem Förster. Wir kamen uns aber so gut wie nie in die Quere, da un­sere Konversationen meistens in der Nacht stattfanden, wenn unsere Gesprächspartner im weiten Land, auf Spät- oder Nachtschicht relativ ungestört telefonieren konnten. Eine Bekannte arbeitete in einer Magdeburger Klinik und veranstaltete nächtens, stundenlange Konferenzschaltungen, sei es nur, dass sie zwei Hörer entsprechend aneinander hielt. (Nach dem Mauerfall stellten sich ganz ne­benbei ihre ausgezeichneten Kontakte zu „Horch und Greif” heraus.)
Dann begann, Oktober 1975, mein Aufenthalt in W-Berlin. Das Teflon wurde obligatorisch und alles bis Anfang der 1980er, 20 Pfennige die Einheit – allerdings 24 Stunden!
Da war es preiswerter, dass zwei Dauertelefonierer ihren Hörer nicht auflegten, nur eine Uhrzeit festlegten, wann es weiter gehen sollte. (Meggi war so jemand!) Allerdings konnte man in der Zeit nicht angerufen werden.
Da solche Wartezeiten nie automatisch unterbrochen wurden, es ging nur manuell vom Amt aus, nach aufwendiger Fehlersuche, ließen sich so Leitungen blockieren. (Damals eine beliebte Methode unter mittelständiger Konkurrenz, den anderen mehr als nur zu ärgern. In Stadtrand-Telefonzellen wurde die Gabel mit Holz richtig blockiert und der Zahlschlitz mit Alufolie verstopft.)
Diese Spielchen ließen sich nur umgehen mit einer neuen oder Geheimnummer. Das anschließende Freischalten mit neuen Ziffern kostete 24 Mark, nahm außerdem fast zwei Wochen in Anspruch. Fangschaltungen bei Telefonterror waren damals, bei gewöhnlich Sterblichen, überhaupt nicht denkbar.
Allerdings bestand die Möglichkeit sich mit der Störungsstelle in Verbindung zu setzen. Bei abso­luter Stille an den Enden, jagte sie irgendwann mal etwas mehr Saft in die Leitung und es klingelte trotzdem. Da es auch geschah, dass der Hörer nicht richtig auflag. Später in der WG kam in die Zu­leitung vor der TAE ein Schalter und der wurde nach erfolgreichen Suchanzeigen für Mitbewohner einfach betätigt.
Auf Feten ließ sich meine Kenntnis über die gerade gültige Prüfnummer der Fernmeldemonteure lustig einsetzen, besonders in Wohnungen mit über 150 Quadratmetern und ellenlangen Fluren, wo sich das Telefon mit einem Reichsdeutschen Anschluss, natürlich an der Eingangstür befand. Ich wählte die entsprechenden Zahlen, legte auf, entfernte mich und nach 20 Sekunden begann es, bei einer intakten Leitung zu klingeln. Hob nun jemand ab, brach die Verbindung sofort zusammen und es folgte das Freizeichen. Jene Nerverei ließ sich noch erweitern bei reell erfolgenden Anrufen, in­dem man aus der Sprechmuschel das Mikro entfernte. Während sehr lauten Feten vernahm der An­rufer immerhin ganz leise Geräusche durch das Hörteil. Beide Teilnehmer fingen nun an zu brüllen, bis einer aufgab…
Einen Joker gab es für jemanden, der die ausgelaufene Nummer von einem viel benutzten An­schluss irgendwann mal erhielt. (Bis in die 90er war es für Normalsterbliche unmöglich, nach ei­nem Umzug im Stadtbereich, seine alte Nummer mitzunehmen. Deshalb ließen sich anhand der Zif­fernfolge, Rückschlüsse auf den entsprechenden Berliner Wohnsitz des Teilnehmers schließen.) Dies ging, 1990, einem Mädel mit meiner alten Schöneberger WG-Nummer so. Da sie das Geld für einen Neuanschluss sparen wollte und herausbekam, wer sich ehemals hinter ihren Zahlen verbarg, gelang es ihr schließlich, mich zu erreichen. Die Dame schien mit einem Sockenschuss behaftet zu sein, verlangte sie doch allen Ernstes, dass ich jeden Bekannten mitteilen sollte, wo ich neuerlich abge­blieben war. Monate später, nach einem Testruf meinerseits: Kein Anschluss unter dieser Nummer, sie hatte endlich investiert!
Aus Ostberlin klang das so: Berlin, Hauptstadt der DDR, kein Anschluss unter dieser Nummer…
Weiß aber nicht, ob es sich dabei nur um einen Spezialservice für Anrufer aus den Coca-Cola-Sek­toren handelte.
Ab den 80ern, als in den Zellen erste, elektronisch nachgerüstete Telefone mit Displays aufkamen, bestand die Möglichkeit, Gebühren für Ferngespräche halbieren zu lassen. Da lungerten vor solchen Telefonzellen im Innenstadtbereich und +Berg manchmal Leute herum, die besaßen Innereien von piezoelektrischen Feuerzeugen, versehen mit zwei dünnen Kabeln. (Für jene Lighters legte man in jenen Tagen sehr viel Schotter hin, außerdem bewahrte der Fachhandel sie in verschließbaren Schränken auf.) Der Service dieser Jungs bestand darin, nach kurzer Rücksprache nebst kleinem Obolus, entsprechende Summen einzugeben, was sich absolut fair auf dem Display begutachten ließ.
Eine andere Möglichkeit, die Telefonkosten sogar zu vierteln, bestand darin, dass man die Münzer mit 5-Pencestücken fütterte. Absolut Identisch mit einer Deutschmark, stand deren Wert bei 25 Pfenni­gen. Noch bis in die 90er hinein fraßen Parkuhren, BVG- und Dattel-Automaten und sehr lange noch Pool-Billardtische gierig diese Währung.
(8. Juni, 1982, gegen 14:30, U-Bahnhof Blissestrasse – stoned wie ein Weltmeister – wollte mit mei­ner Freundin zu den Rolling Stones. Meine Barschaft bestand aus ungefähr 20 losen 5-Pencestüc­ken in der Hosentasche, damit versuchte ich einen Viererfahrschein, für 4,50 DM?, zu erstehen. Eine Münze nach der anderen rutschte anfänglich durch. Mit etwas Spucke drauf, blieben beim anschlie­ßenden Durchgang, die verbleibenden zwei, endlich auch hängen. Rasselnd spie der Automat die Karte in das vorgesehene Fach, dann klimperte ein Geldstück hinterher, die 50 Pfennige Restgeld! Neeee, nee – auch etwas in einer leichteren Währung, es handelte sich um ein 50 Centime-Stück…)
Die Bundesbirne holte sich, ob dieser 5-Pencestücke bei UK-Maggie eine mächtige Abfuhr.Als er an sie appellierte, endlich jenen Münzen die Deutschmark-Identität zu nehmen. Sie antwortete ihm daraufhi, wenn er mit diesen Münzen Probleme hätte, dann solle er gefälligst etwas unternehme!
In den End70ern und den beginnenden 80ern war ich oft in London, mit zwei Übernachtungen am Wochenenden, für 99 D-Mark. In jeder Bank konnte man, gleich abgepackt, jeweils zu 100 Stück, 5-Pence erstehen. Durchgehend grinsten die dortigen Angestellten immer ganz dreckig…
War in der Zeit auch oft in Amsterdam, als man noch im Wondelpark pennen konnte, auch in den den niederländischen Banken gab es den entsprechenden Pence-Service. Wurden bei Stichproben­kontrollen im rollenden Korridor-Transit oder auf Flughäfen solche Mengen an UK-Münzen ent­deckt, musste man sie, mit leichtem Verlust sofort zurücktauschen. Allerdings gab es auch die Mög­lichkeit einer Beschlagnahmebescheinigung und das Geld holte man sich dann auf einer hiesigen Bank retour…
Zum Folgenden, kurz einige technische Anmerkungen.
Um bei alten Telefonen extern mitzulauschen, gab es mehrere Möglichkeiten. Die einfachste, an fast allen Geräten konnte man eine zusätzliche Hörmuschel anschließen. In der Regel musste neben dem Anschlusskabel eine winzige Plastikabdeckung entfernt werden und schon ließ sich das zusätz­liche Hörteil einstöpseln.
Als nächstes, auch ganz einfach, es setzte aber den Betrieb eines externen Gebührenzählers vor­aus. Das kleine Kästchen stellte man in die Nähe eines Transistorempfängers, suchte kurz auf UKW die entsprechende Frequenz und schon ließ sich alles mithören.
Ich lötete mir allerdings einen Adapter mit DIN-Buchse und stöpselte das Kabel in die Stereoan­lage, optimal zur Verstärkung und Aufnahme. Weiterlesen

FALK-ATLAS P/10 – Sommer 82

Es soll ja Leute geben, die bei den Namen Langhans und Schadow fast einen Orgasmus bekommen und mit verklärtem Blick dann sofort an das Brandenbur­ger Tor denken.
Mag sein, mir kamen aber solche Gefühle nie auf. Zwar fand ich als Kind dieses Teil auch gewaltig, aber schon als Halbstarker sah ich es unter einem ganz ande­ren Aspekt, wobei ich die Leistung beider Männer in keiner Weise schmälern möchte.
Berlin wäre fast ein Nichts ohne dieses monströse Ding, was einfach so rum steht, zum Durchfahren oder Durchlatschen.
Dieses gewaltige Portal ist für mich immer ein Symbol merkwürdigster Manifestation von Macht gewesen. Bei der Vorstellung, dass Hunderttausende in schnieker Militärkluft dort freudig durchmarschierten auf dem Weg zu Schlachtfelder in der ganzen Welt, es anschließend nie wieder sahen, da wird mir immer ganz anders.
Gott sei Dank, ging dieses zweifelhafte Privileg, irgendwo als uniformierter Tourist auf Jagd zu gehen, schlicht an mir vorüber.
Allerdings büßte das Tor seinen militärischen Reiz auch zu Mauerzeiten nie ein. Denn beide Systeme kochten an dieser historischen Stätte ihr Süppchen. Wäh­rend Regierungsdelegationen bei ihren Besuchen in der „Hautstadt“ über den publikumsfreien Pariser Platz schlamperten, wurden auf der Westseite, demo­kratisch die hölzerne Aussichtsplattformen weiträumig für den Pöbel gesperrt.
Bestimmt gibt es noch Leute, die sich daran erinnern können, wie Kognak-Willy ver­suchte, Lemmer von seinem schnöden Tun abzuhalten, der mit wutentbrannter Miene, scheinbar drauf und dran war, ei­genhändig ein Stück Mauer abzureißen.
Für Leute, denen der Name Lemmer nichts sagt, er war damals u. a. „Bundesmi­nister für innerdeutsche Fragen“ – brauchte also nie Antworten zu geben. Ernst L. aus Bonn, versuchte wenigstens zu handeln. Ganz im Gegensatz zu seinem Kollegen F.J.S., seines Zeichens Verteidigungsminister, der am 13. August be­soffen in seiner Koje lag, nicht gestört werden wollte und schließlich noch tage­lang seinen Kater auskurierte, und es folglich von der Hardthöhe keine Reaktionen gab.
The Brandenburg Gate“ besaß fortwährend eine magische Anziehungskraft für Horden von Besatzern, die später auf der einen Seite Schutzmächte hießen, auf der anderen Freunde, die sich vor dem Tor ablichten ließen. Wobei die gemeinen Sol­daten aus der östlichen Hemisphäre dieses Vergnügen nur einseitig ge­nießen durften. Dafür kamen bei Verwendung entsprechender Objektive, von der west­lichen Seite, immer die Ärsche der Quadriga-Gäule alle Fotos.
Seitens der „Strasse des 17. Junis“ gab es die Möglichkeit viel näher an das Tor heran zu kommen, allerdings erschienen die schamhaft mit grobem Holz in Kistenform verpackten Panzersper­ren auf der Ostseite, nicht gerade vorteilhaft für das Gesamtbild, aber Politik hat schließlich nichts mit Ästhetik zu tun.
An die schizophrene Situation dieser Grenze wurde ich am Brandenburger Tor immer besonders erinnert. Nicht nur, weil dieses Bauwerk meine Sichtachse lot­recht zerhackte. Bis 1974 konnte ich vom Osten her die güldene Sieges-Else auf ih­rer Säule betrachten und durfte die grenzenlose Freiheit nach oben genießen, die mir aber als flügelloses Wesen nichts nützte. Deshalb waren auch die hundert Meter bis hinter das Tor unüber­windbar. Ende ´75 ging es mir bei meinem Blick durch die Säulen nicht anders, zwar wesentlich näher am Portal, nun mit Blick nach Osten zum Roten Rathaus, aber die Unüberwindbarkeit der Grenze bestand für mich nach wie vor.
Was war aber dieser kleine beschränkte Durchblick im Gegensatz dazu, dass mir ja nun fast die gesamte Welt offen stand. Was lange vor dem Mauerfall eine ganz andere Wertigkeit besaß und jeder erfassen konnte, der auf der anderen Seite angekommen war.
Bevor die Organe mir den PM 12 (Kennkarte als Ausweisersatz, mit dem der Inhaber das Staatsgebiet der DDR nicht verlassen konnte, auch nicht in Richtung Polen oder des Tschechlandes) verpassten, genügte mir im Osten noch die ausgerissene Seite aus einem Volksschulatlas mit den angrenzenden Gefilden östlich der Oder, in den Reichsgrenzen von Ende Oktober 1939.
Länger ließ man mir meine Longe nicht, da ich als aktiver Beatanhänger – (Stasislang) versuchte, auf dem Gebiet unsrer Deutschn Demokrtschn Replik der westlich dekadenten Lebensweise zu frönen.

*

Irgendwann, nach dem Oktober ´75, waren dann Kartenausschnitte vom Globus als erklärende Hilfsmittel für kleine Fluchten angesagt.
Trotzdem landete ich die ganzen Jahre immer wieder an dieser Stelle, die man auf älteren Berliner Stadtplänen des Falk-Verlages, unter den Koordinaten P/10 finden konnte. Schuld daran war eine Eigenart von mir. Für Ortunkundige Freun­de, fungierte ich den ersten Tag ihres Berlinaufenthaltes im­mer als Scout, und da war halt das Brandenburger Tor obligatorisch.
Unter ihnen befanden sich Personen, die im Laufe der Zeit wahre Berlinfans wurden, und denen ich dann bei Gegenbesuchen spezifische Geschenke mitbrach­e. Schilder von den Interzonenzügen: Hoek van Holland-Berlin-Warschau, Halte­stellentafeln der BVG, am beliebtesten stellten sich aber die kleinen Hinweisschilder heraus, die alle paar hundert Meter entlang der Grenze im Auftrag der Schutz­mächte gepflanzt wurden. Sehr attraktiv fand ich die polierten Granittafeln der Fran­zosen, die außerdem in Brusthöhe angebracht waren. Von denen ich allerdings nur eine im Eiskeller weg fand. Die Demontage konnte nur mit sehr viel Aufwand vons­tatten gehen, denn die Befestigungsschrauben waren gesenkt eingelassen in Bet­onhalterungen und total eingerostet.
Sahen die französischen Teile gediegener aus, so fand ich die britischen richtig poppig, allerdings wesentlich höher angebracht, ich schätze, um die sieben Fuß. Sie ließen sich erheblich einfacher verlagern, denn es mussten nur zwei M 8er Schrauben gelöst werden. Allerdings gab es da ein anderes Prob­lem: Der rege Besucherstrom an diesen Stellen, denn der britische Sektor grenzte innerstädtisch an den russischen.
Drei Teile wurden von mir zu den unterschiedlichsten Tageszeiten demontiert, imm­er südlich des Brandenburger Tores im Sektor P/10. Obwohl sich in Wurfweite, hinter Sträuchern ein hölzerner Beobachtungsturm hauptsächlich für grenzgeile Touries befand, war die Stelle gut gewählt, denn dort wuchs das hohe Buschwerk ziemlich an die Mauer ran.
Die letzte Aktion gestaltete sich für mich am schwierigsten. Nicht etwa, weil ich er­wischt wurde und es Folgen hatte, nee, bei der Demontage ging mir ein KOB mächtig auf den Keks. Danach war auch zappo, wegen der veränderten Form aller Befe­stigung.
Schild Nr.1 hing an zwei verrosteten Schrauben, da half Caramba-Rostlöser. Nr.2 hing an fast neue Muttern. Beim letzten waren allerdings die Gewinde­stücken schon fürchterlich mit dem Hammer aufgepilzt, aber mit zwei 13er Markenringschlüsseln gab es keine größeren Probleme.

*

Zur Erinnerung, diese Schilder sahen folgendermaßen aus: 50 mal 50 cm, die Fläche in weiß gehalten und rot umrandet. Mittig im oberen Teil prangte der Union Jack, in 15 mal 8 cm Größe. Während sich in der linken oberen Ecke die fortlau­fende Nummerierung befand, für die Kennzeichnung der Punkte, an denen sie angebracht waren, stand unten rechts RMP, wenn mich nicht alles täuscht, be­deutete dies: Royal Military Police. Meine Schilder trugen immer die Nr. 13 und die Aufschrift war folgende:
END OF BRITISH SECTOR
DO NOT PASS THIS POINT
ENDE DES BRITISCHEN SEKTORS
VOR DEM WEITERGEHEN
WIRD GEWARNT

Mitte der Achtziger erhielt ich preiswert ein gebrauchtes Motobecane-Rad, checkte es durch, und testete es anschließend. Es schien die Gelegenheit zu sein, mal wieder am Punkt 13 vorbeizuschauen, denn Krefelder Freunde wünschten sich für ihre WG-Küche et­was berlinerisches. Was passte besser dorthin, als eins dieser Schilder.
Kreuz und quer gings durch den Tiergarten, nebenbei stellte ich fest, dass man hier unbedingt ein Rad mit 21er Gangschaltung brauchte. Ein Tourenrad mit dreier Nabenschaltung währe optimal gewesen, denn mit den Alufelgen ließ sich nur bedingt die Bordsteine hoch und runter hüpfen.
Jeder konnte auch registrieren, dass man in unmittelbarer Mauernähe nicht radeln konn­te, denn überall lagen zertöpperte Bier- und Schnapsflaschen rum.
Jener Samstagnachmittag schien auch ungünstig gewählt für meine Unterneh­mung, denn überall schienen sie Busladungen von Touries abgekippt zu haben. Mäch­tiges Gewimmel fand ich am Ausguck vor. Als es etwas dünner wurde, setzte ich mich oben auf eine Ecke des Geländers, ließ die Beine nach außen baumeln und betrachtete schräg vor mir über dem Grün mein Schild. Noch in Gedanken ver­sunken bemerkte ich, dass mich von unten jemand ankrähte, so von wegen, schlechtes Beispiel für Kinder und Jugendliche. Nur überhören und nicht nach dem Schreier schauen, der schien sich nicht einholen zu können. Endlich machte mich ein neben mir stehender vorsichtig darauf aufmerksam, wer sich da ebenerdig echauffierte. Das Gesicht des armen Gendarmen hatte schon eine gefährlich rote Färbung angenommen, außerdem zierten sein Uniform­hemd mächtige Schwitzflecken. Der Mann schien sichtlich sauer, dass er an ei­nem solchen Tag dem lieben Gott die Zeit stehlen sollte. Von den Umstehenden wollte ich erst mal wissen, ob sie nicht auch meiner Meinung wären, dass der Herr viel dicker sein könnte, auch nicht so schwitzen würde, bei etwas weniger Gekreische.
Verhaltenes Kichern und böse Blicke veranlassten mich, die Taktik zu ändern. Gelangweilt drehte ich mich nach innen, blieb aber weiter sitzen. Die Plattform be­gann, sich zu leeren, dabei hagelte es noch Sprüche von Lieschen und Otto Nor­malo. Meine Frage, ob sie mich etwa verantwortlich machen wollten für pädagogi­sche Defizite irgendwelcher dahergelaufener Elternteile, falls ihre Kinder sich auch so bequem hinhocken würden wie ich, ließen alle unbeantwortet.
Nun machte die kleine grüne Rothaut An­stalten die Treppe zu erklimmen. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, in dem Moment, wenn er die Plattform betrat die vier Meter runter zuspringen, aber es reichte mir. Während des Hinabsteigens ging sein Geplapper von vorn los. Da ich ihn nicht weiter beachtete, wurde er seltsamerweise ruhiger, rief mir aber noch etwas hinterher, als ich mich verbotener Weise radelnd entfernte. Vielleicht 50 Meter weiter ließ ich die Karre fallen und legte mich auf den Rasen. Nun war es an ihm, mich zu ignorie­ren, als er vorbeiging. Alsbald gings retour, lehnte mein Rad an das Rohr, stieg auf die Querstange und begann, die Schrauben erst mal zu lockern. Der Teu­fel wollte es, gerade beim Verstauen der Schraubenschlüssel im Parka, sprach mich jemand an, was ich dort oben machen würde.
Nein, nicht schon wieder.
Für ihn war es genauso verwerflich, auf einem Herrenrad zu stehen, sich dabei an dem Rohr festzuhalten und in der Gegend herumzuschauen. Dabei gab es gar nichts zu sehen, denn über den Beton konnte ich wegen der Höhe nicht schauen, ansonsten rechts und links von meinem Platz nur Gebüsch und vor mir bemalte Wand. Hoffentlich nahm er das Schild nicht weiter in Augenschein.
Schließlich packte ich mein Fahrrad, lehnte es an den Beton und hockte mich da­neben, mit dem Rücken an die Mauer gelehnt. Ob nicht bekannt wäre, dass ich mich in diesem Augenblick einer Grenzverletzung schuldig machte. Nun reichte es mir und verlangte für weitere Belehrungen einen alliierten Offizier. Daraufhin dreht der Mann bei und verschwand. Meinen Renner band ich wieder an das Rohr und beobachtete den Polizisten, der sich ins Endlose trollte.
Endlich sicher, dass er nicht noch mal auftauchen würde, erklomm ich erneut die Querstange und nach wenigen Handgriffen hielt ich mein Beutegut in den Händen. Von mehreren Gaffern kamen positive Sprüche, denn sie fanden die Geschenkidee sehr originell.
Wieder auf dem Rad sitzend, wurde das Blech unter meinem Parka verstaut, die unteren Schnüre festgezurrt und los gings in Richtung Lenne´-Straße. Das war ein scheiß radeln. Immer wechselseitig knallten meine Schenkel gegen das Stück Metall. Am Dreieck kämpfte ich mich durch hohes Unkraut und Ge­büsch, auf einem Pfad weiter zur Bellevue Straße. Lauschte kurz vor einem hohen Kantstein auf den Verkehr, sicher dass nichts kam, hüpfte ich elegant auf den Bitu­men. In diesem Augenblick kam ein Narr mit hoher Geschwindigkeit von links an­gebrettert. Ruckartig hieß es nun sich auf mehrere Dinge gleichzeitig konzentrie­ren. Musste beim Springen Obacht auf die Felgen geben, ein Auge auf das Auto werfen, und die Karre scharf nach rechts ziehen. Hupend zog der Kraftfahrer schleudernd sehr weit links an mir vorbei und touchierte fast im gleichen Augen­blick ein entgegenkommendes Fahrzeug. In diesem Moment öffnete sich die Kordel meines Parkas und das Schild schlitterte über die Fahrbahn. Der Fahrer des vom Kemperplatz kommenden Autos, gerade ein Lenkmanöver hinter sich, wurde wieder irritiert und stand mit quietschenden Reifen, plötzlich quer, mitten auf der Straße. Auf beiden Fahrbahnseiten Bremsgeräusche, Hupen und lautes Flu­chen. Die Situation roch nach einer Lynchfete, also nur weg. So ganz nebenbei kam die Erkenntnis, dass meine Bremsen nicht korrekt eingestellt waren. Ein paar Meter hinter dem unversehrt mitten auf Straße liegendem Schild kam ich zwi­schen mehreren Autos zum Stehen. Sprang vom Rad, lud es, so wie es stand auf meinen Ast, rannte die paar Meter retour, wobei das wedelnde Vorderrad mich heftig am Rennen hinderte. Der Lenker knallte mir dabei mehrfach an den Kopf, ich klaubte das Blechteil auf, huschte diagonal über die Entlastungsstraße in Rich­tung Tiergartenstraße, schwang mich auf meinen Hirsch und verkrümelte mich ra­sant in den kleinen Fahrwegen hinter der Philharmonie. Auf der Rasenfläche an der Matthäikirche war dann relaxen angesagt, wobei ich beschloss, beim nächsten Mal anders vorzugehen.
Dazu kam es aber nicht mehr. Kurz darauf waren Muttern, Schrauben und Halterung aus Flacheisen, durch eine E-Schwei­ßung eins geworden, leider gab es die Accu-Flex für den priva­ten Gebrauch noch nicht.
Vom Krefelder Detlev weiß ich, dass er dieses Relikt des kalten Krieges aus WG-Zeiten rübergerettet hat und es immer noch existiert.
Mit ihm und einem Freund erlebte ich später etwas, dass bei der versuchten De­montage eines Straßenschildes allerdings leicht hätte ins Auge gehen können.
Gemeinsam mit meiner Freundin waren wir und die Krefelder abends im Cafe´ Carroussel, in der Eisenacher Straße verabredet.
Kurz nach dem die beiden eintrudelten, begannen sie mir ein Ohr abzukauen. Die Zwei waren vom Ku-Damm zur Kneipe spaziert und dabei die Motzstraße überquert, eben dort kam die Idee, eines dieser Schil­der abzumontieren, denn in der WG-Küche sollte eine Motz­ecke etabliert werden. Es wäre doch kinderleicht so ein Teil abzuschrauben, wegen der zwei VA-Schlauchschellen zur Befestigung. Deshalb sollte diese Aktion noch in dieser Nacht steigen. Was ich total bescheuert fand, denn am helllichten Tag könnte es viel unauffälliger vonstatten gehen. Mein Vor­schlag lief darauf hinaus, am nächsten Tag, zwei Leute im Blaumann mit Eimerchen, Lappen und kleiner Leiter, ganz unauffällig ein paar Schilder putzen und nebenbei eins abzumontieren. Leider fand diese Idee keine Zustimmung. Da ich zu einer nächtlichen Aktion keine Lust verspürte, war das Thema für Stunden beendet.
Kurz vor unserem Aufbruch, weit nach Mitternacht, ließ ich mich trunkend überreden, es in der Dunkelheit zu probieren. Detlev und Ralf schlamperten in Richtung Motzstraße los. Meine Freundin fuhr mich nach Hause, um entspre­chendes Werkzeug einzustecken: mehrere Schraubendreher, Seitenschneider und eine Kneifzange. Dann fuhren wir zum Treffpunkt an der westlichen Einmün­dung besagter Straße am Viktoria Luise Platz. Evi, obwohl ihr sehr mulmig ward, wollte in der Einmündung Winterfeldstraße auf uns warten. Im Rahmen einer Verkehrsberuhigung war die Motzstraße, dort als Sackgasse, durch Poller von den anderen Straßen abgetrennt worden.
Gemeinsam schlamperten wir die Motze bis zur Ansbacher runter und beschlos­sen schließlich am Platz das Schild zu nehmen. Nebenbei kamen nun von Detlev Vorbehalte. Wieder oben angekommen, gab meine Freundin durch kurzes Fernlichtaufblinken zu verstehen, dass sie auch bereit sei.
Bei Alt­berliner Straßenschildern wäre es einfacher gewesen, denn dort wurde das beschriftete Blech nur in einen Rahmen geschoben und durch eine Schraube gesichert.
Detlev wollte, in gewisser Entfernung am Platz zwischen Motz- und Regensburger die Gegend sichern. Ralf lehnte sich mit dem Rücken an die Laterne, ich bestieg seine Räuberleiter und hielt ich mich oben mit einer Hand fest. Der Versuch die Schelle mit Hilfe einer langschenkeligen Kneifzange zum Bersten zu bringen, musste sehr schnell aufgegeben werden. Endlich die erste Befestigung mit einem Kreuzschlitzschraubendreher aufgefummelt, das Schild klappte auf halb acht nach unten, wurden wir beide plötzlich von aufge­blendeten Scheinwerfern etwa fünfzig Meter vor uns angestrahlt. Gleichzeitig, mit sich fast überschla­gender Stimme, kam aus der Richtung dröhnend die Frage, was wir dort täten. Noch während Ralf mir zuraunte, »los runter!«, öffnete er seine beiden Hände und ich schrammte am Laternenpfahl abwärts und knallte mit den nackten Füßen auf den Gehsteig. Mein Spezi drehte sich zur Leuchte, schrie mit ver­drehten Kopf zurück: »Mann, können sie es nicht sehen, ich will pinkeln!«
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Affenartig klaubte ich meine Jesuslatschen und das verstreut liegende Werkzeug auf und registrierte währenddessen, dass der aufgeblendete Wagen ­startet, jemand schreiend in unsere Richtung rannte: »…wenn sie pinkeln wollten, wat sucht da jemand auf ihren Schultern? Halt stehen bleiben! Polizei!«
Von Detlev bekam ich nur noch einen Kondensstreifen mit, er jagte die Regensburger runter. Ralf preschte über den Platz in Richtung Welserstraße. Für mich blieb gerade noch etwas Zeit, hinter einigen Büschen abzutauchen. Dort ließ sich beobachten, dass beide Zivis am Tatort neben ihrer laufenden Karre standen und sich unterhielten. Gleichzeitig aber, schräg gegenüber, mein Fluchtfahrzeug startete und sich entfernte.
Wenig später tauchte Ralf la­chend auch wieder im „Carrousel“ auf. Meine Freundin schien nach Hause gefahren zu sein und Detlev trafen wir Stunden später, verschlafen kauernd auf der untersten Treppenstufe vor meiner Wohnungstür an. Statt uns wieder in der Kneipe zu su­chen, versuchte er lieber, im Hausflur zu pennen, denn er traf von meinen WG-Ge­nossen niemanden an.
Dieter, der Zapfer, kringelte sich, als wir ihm unser erfolgloses nächtliches Unterfangen schilderten. Später kam er mit einer einleuchtenden Erklärung, warum dort Zivis rumlungerten.
Wochen vorher war um die Ecke, in einer jüdi­schen Kneipe, dem “Mifgash” (Nachodstraße), eine Bombe hochgegangen, dabei starb ein Baby, 20 Menschen wurden verletzt. Die Kneipe be­wirtschaftete man anschließend nicht wieder is­raelisch, außerdem wurden die teilweise sehr merkwürdig anmutenden Hintergrün­de dieses Anschlags, nie aufgeklärt.
Deshalb der monatelange Aufwand einer Bewachung, da der Legende nach, jeder Täter an den Tatort zurückkehrt

NÄCHTLICHER VERSUCH EINER ENTSORGUNG – Sommer ’80

Vor vielen Jahren, Anfang der 80er, als mein alter Kumpel Yogi noch aktiv seinem Broterwerb bei der BVG – Fahrbereitschaft nachging, ergab es sich, dass er alle paar Monate Klimbim aus dem Firmenfundbüro, welches die dortigen Kollegen nach einer Wartefrist als nicht versteigerungswürdig hielten, in die Müllverbrennung transportierte. Als ich dies erfuhr, kam er anschließend bei mehreren dieser Touren bei mir vorbei. Etliche Kubikmeter dieser Fundgegenstände landeten so in meinem sehr großen Keller und anschließend auf Flohmärkten.
Hunderte von Koffern, Taschen, Geldkatzen, Brieftaschen, Regenschirmen, jegliche Art von Textilien, unterschiedlichster Schuhe u.s.w. , nebenbei auch haufenweise Vibratoren mannigfaltigster Form und Farbe, genauso Dessous.
Da machte beim Verkauf Kleinvieh richtig Mist.
Verwunderung kam mir auf, über die Unmengen an Kühlschränken, alten Glotzen, Möbeln und Ma­tratzen, die oft die größten Mengen auf dem LKW ausmachten.
„Ganz einfach, es ist für viele Mitbürger die billigste Form der Entsorgung von Sperrmüll mit der letzten U-Bahn…“
Dies wiederum fand ich sehr witzig. Bei meiner kleinbürgerlichen Sperre wäre ich nie auf diese Idee gekommen. Allerdings gab es schon was her, besser als den ganzen Scheiß einfach auf die Straße zu stellen. Bei den BVG-Fahrpreisen müsste dieser Service eigentlich mit drin sein…
Auf einer Fete ergab es sich, dass ich dieses Problem mal zum Besten gab, die Runde schien arg belustigt.
Wenig später schilderte ein Bekannter in fröhlicher Kifferrunde den Versuch der Entsorgung seiner alten Glotze, nach meinem damals erfolgten Bericht. Die leider etwas anders verlief, als es sich die beiden Umweltsauen vorstellten.
Auch etwas bürgerlich ge’schamicht, sollte die Aktion im Dunkeln steigen. Von Nutzen schien die Tatsache, dass einer sowieso mit letzter U-Bahn in Richtung Herrmannplatz wollte. Vorher wurde noch ein Hörnchen, mit Gras und Lachtürken eingepickt. Dann machte man sich ans Werk. Bei dem zu entsorgenden Corpus delicti handelte es sich um eine riesige, sauschwere Schwarz/Weiß-Glotze aus den Endsechzigern. Die Maßnahme sollte eigentlich schon nach den zwei Etagen vom Hinterhaus auf die Straße abgebrochen werden. Da nun das schwierigste erledigt schien, waren die paar hundert Meter von der Ecke Fechnerstraße, die Sigmaringer runter ein Stück Brandenburgische doch nur ein Klacks. Wer Wilmersdorf etwas kennt, wird sich vorstellen können, wie es schallte in den leergefegten Straßenschluchten, als zwei voll gedröhnte, ewig lachende Typen weit nach Mitternacht versuchten, ein verdammt unhandliches Teil zu hucken. Während einer längeren Rast auf halber Strecke, wurde ernstlich die Gegend abgeleuchtet, denn das elektronische Gerät schien mittlerweile Zentner zu wiegen. Oh, Gott diese verlockenden Möglichkeiten, dieses Teil unauffällig verschwinden zu lassen. Da bot sich in unmittelbarer Nähe die riesige Garage unterhalb der dortigen Turnhalle an, oder der mit Sträuchern umwachsene Kinderspielplatz gleich anschließend. Nix, es musste zu Ende gebracht werden. Als nächste Rast wurde die Ecke Gasteiner/Brandenburgische auserkoren. Kaum vor dem Gesundheitsamt entspannt auf einer Bank sitzend, die Hufen auf dem unförmigen Möbel ausgestreckt, als zwei jung/dynamische Herren erschienen, die für den Anfang verdammt viel Fragen auf einmal abließen – Warum zu nächtlicher Stunde so ein Krach veranstaltet würde, woher der Fernseher stammte, wohin er sollte und schließlich, na zeigen sie doch mal ihre Personalausweise!
Erst wurde noch etwas gefrotzelt, aber nachdem einer der neugierigen Herren mit einem Dienstausweis rumfuchtelte, war ruckartig Schluss mit lustig, denn keiner konnte die verlangten Papiere vorweisen. Nun wurde von den Zivis in Erwägung gezogen, eine Grüne Minna zu ordern zwecks Überprüfung der Personalien, dies konnte aber abgebogen werden. Man einigte sich, dass ein Kollege mit in die Fechnerstraße ging, um zu überprüfen, ob die mündlichen Angaben stimmten, außerdem sich dort ein Ausweis befand. Die anderen beiden machten es sich derweil auf der Parkbank bequem.
Alles regelte sich kürzester Zeit, der Gendarm wurden im Flur sogar auf die Abdrücke der Glotze im Teppichboden hingewiesen.
Wieder retour, verabschiedeten sich die Zivilen, stiegen in ihr Auto und weg waren sie, allerdings die letzte U-Bahn ebenso. Nun schien guter Rat aber teuer, fluchend ging es zurück und man parkte das Kommunikationsmöbel bis zum nächsten Morgen gleich hinter der Eingangstür im Vorderhaus. Anschließend gings für den Rest der Nacht ins “Flöz”, das war der Laden von Franz de Brüll.
Kurz nach dem Aufstehen, am frühen Nachmittag, stellte mein Nachbar fest, dass irgend so ein Schwein die Glotze geklaut hatte…

IN DER GOLDENEN STADT – Ostern ’79

23. Oktober 1975 – ein schicksalhafter Tag, nicht nur für mich, denn am 52. Geburtstag der Mutter meiner Schwester, begann mein zweites Leben auf der anderen Seite von Mauer und Zaun.
Es war mir nie möglich mit ihr über Probleme, die uns beide betrafen, zu spre­chen. Es gab Zeiten, da hätte es mich interessiert, was in ihr vorgegangen war, als ihre Genossen sie mit 51 Jahren in die Wüste schickten. Schon als etwas älteres Kinder leuchtete mir ein, dass sie sich bereits Jahrzehnte etwas vormachte,  da war ich noch etwas feucht hinter den Ohren. Mich traf es dabei am schlimmsten, denn ich schien von ihr auser­koren, stellvertretend, ihre niemals verwirklichten Träume zu realisieren und dies in einer Welt, wo sie Mauern aus Lügen, nicht nur um ihre Kinder baute.
(Pech für mich, dass mein Erzeuger, 1994, schier in der Woche das Zeitliche seg­nete, als ich noch etwas halbherzig begann, ihn ausfindig zu machen. Allerdings ist es dieser Tatsache zu verdanken, dass ich überhaupt von seinem Tod erfuhr. Anschließend musste ich, nach der Sichtung von Unmengen seiner akribisch ge­sammelten Papiere, feststellen, dass nichts auch nur annähernd den Angaben entsprach, die seine Geschiedene über Ihren Ex uns gegenüber verlauten ließ. Der Mann entpuppte sich schlicht als das ganze Gegenteil von dem, was mir berichtet wurde. In meinen minimalen Erinnerungen war er abgrundtief schlecht.)

Fast drei Jahre benötigte meine Erzeugerin nach meiner Übersiedelung, um an die damalige ak­tuelle Anschrift von mir zu gelangen. Niemals erfuhr ich, wie sie es anstellte, um von den Eltern eines Kumpels, die sie absolut nicht abkonnte, meine Adresse zu erfahren. Kurz vor Weihnachten 78 erhielt ich dann einen Brief von ihr. Der erste Brief, den ich nach Jahren erhielt, klang vernünftig, verbunden mit der Bitte, doch diese witzlo­sen Sprüche zu unterlassen. Bis zu dieser Zeit bekam sie nur sehr kurz gefasste Grüße von all meinen Reisen, mit dem Spruch: Damit Du siehst, dass die Prophezeiung Deiner Genossen noch nicht eingetreten ist. Ich gehöre immer noch nicht zu den Rauschgifttoten der freien westlichen Welt!
Aus irgendwelchen Gründen erhielt sie jede meiner Karten. Was mir zu Ostzei­ten und nachher im Westen nicht immer zu Teil wurde. Allerdings versah ich nach dem Grenzwechsel Briefrückseiten nie wieder mit Nachsätzen wie folgendem:
Dieser Brief ist keine Drucksache, was sich unschwer am Porto erkennen lässt! Der letzte Leser vor dem Empfänger möge nicht vergessen den Brief zu verkle­ben, verbunden mit lieben Grüßen an alle!
Manchmal erreichten mich zu Ostzeiten Briefe von Freunden, trotz ähnlicher Kommentare auf der Rückseite. Nur einmal bin ich von den Organen gefragt worden, was das denn solle, schließlich gäbe es in der DDR das Briefgeheimnis, worauf mir nichts ein­fiel. Allerdings bekam ich von der Post mal Auszüge von Bestimmungen zugesandt, in denen es hieß, dass es für die zu befördernden Mitteilungen Normgrößen geben würde. Zweimal musste ich mir Zuschriften persönlich am Schalter abholen und wurde nebenher belehrt. Es handelte sich damals um ordentlich frankierte Grüße, notiert auf einem Bierdeckel und einer aufgerissene “Salem” Schachtel.

Ich gelobte nach “Mutters” erstem Brief Besserung. Was zur Folge hatte, dass zwei Briefe später schon wieder die ersten Vorhaltungen ihrerseits auftauchten. Dies veranlasste mich, nur auf den Wunsch meiner Großmutter nach bestimmten Ge­würzen einzugehen und brach den Kontakt sofort wieder ab.
Als meine Großmutter Anfang 1979 dieses Treffen in Prag vorbereitete, ahnte ich schon, dass sich die Großwetterlage zwischen meiner “Mutter” und mir nie än­dern würde. Meine Vorahnung bestätigte sich, nicht der geringste Anflug von fried­licher Koexistenz schien möglich. Jede noch so belanglose Postkarte benutzte sie anschließend, um mir zumindest einen kleinen Nadelstich zu versetzen.
(Mehrere Jahre tat ich so, als ginge es mich nichts an, dann, in den Achtzigern, kam ein Vergeltungsschlag. Damals in Rot-China unterwegs, entnahm ich aus ei­ner kommunistischen Postille, dass Hunderttausende ehemaliger Ossis vor der hochkant stehenden Autobahn in Berlin harrten, um wieder unter Erichs Fittiche zu kriechen. Da musste ich ihr einfach die Mitteilung machen, dass sie sich keiner Hoffnung hingeben brauchte, mich in einer dieser Schlangen zu vermuten.)

Kurz vor dem Osterfest erreichte mich eine Anfrage von Oma, ob die Möglichkeit eines Wiedersehens bestehen würde. Diese Gelegenheit bestand nur im Tschechland oder in Polen. Da während dieser Zeit sowieso ein Treffen mit Freunden in Prag verabredet war, ließ ich mich darauf ein. Unter einer Bedingung. Meine damalige Freundin Gabi sollte bereit sein, als Unparteiische zwi­schen meiner Mutter, die mitkäme, und mir zu agieren. Nur unter dieser Einschränkung war ich zu einem Treffen bereit, Oma gab auch ihr Einverständnis. Das Wiedersehen sollte im Restaurant “U Fleku”, Ostersonntag, nachmittags statt­finden.
Im Gegensatz zu Gabi, die alles sehr spannend fand, wurde mir immer mulmiger, je näher der Termin rückte. Schon die Tatsache, dass die meisten meiner Freunde Volksdrogenabhängige waren, ließen in mir Zweifel aufkommen, ob eines ge­meinsamen Trips ins Goldene Prag.
Der kluge Mann baut vor.
Notfalls sollte mein alter Kumpel Nebel als Vermittler einspringen, um für Gabi den Part eines Neutralen zu übernehmen, denn ich wollte auf keinen Fall solo er­scheinen. Es kam, wie es kommen musste. Auch ohne mein Zutun bekam Madame ihr Ostblocktrauma, aber sie hielt durch bis zum bitteren Ende.
Gründonnerstag, am späten Vormittag, kamen wir mit dem Zug über Bayern in Prag an. Nach Auskunft der Tourist Information gab es in der ganzen Stadt für die nächsten Tage keine Zimmer. Dies war mir natürlich klar und wollte, wie üblich, irgendwo schwarz pennen. Leute mit Zimmerangeboten lungerten massig vor den Čedok-Reisebüros herum.
Auf eine illegale Übernachtung wollte sich Gabi auf keinen Fall einlassen, schließ­lich kannte sie die Story meiner letzten Penne vergangenes Silvester.

Mit Freunden ergatterten wir eine sehr preiswerte Unterkunft, wo sogar noch ein Haufen Leute zusätzlich unterkamen. Allerdings gab es hinterher, wie er wartet, an der Gren­ze, den üblichen Zeck bei der Ausreise, da niemand eine polizeiliche Anmeldung vorweisen konnte. Außerdem gebärdeten sich die Grenzorgane, wie üblich sehr neugierig, was unsere Unterkunft anging. Nach einer Stunde Wartezeit, erledigte sich alles. Die Geldstrafe betrug 600 Kronen, was ungefähr 40 DM entsprach, und dies war ent­schieden preiswerter als Übernachtungen in Devisen-Hotels. Allerdings zögerte sich der Aufenthalt dann doch noch etwas hin aus, als zwei kleine Blöcke, von Bußgeldbescheinigungen je einer Krone, in Miniabreißkalenderformat zu dreihundert Stück, sofort nach dem Bezahlen in den Papierkorb flogen. Daraufhin flippte der mich abfertigende Grenzer aus. Drohte mir noch weitere Strafgelder an, da ich einer grenzpolizeiliche Maßnahme nicht die gebührende Aufmerksamkeit schenkte. Ihn dadurch beleidigte, da es sich im Prinzip um tschechisches Geld handelte, welches im Abfallbehälter landete. Dies könnte ich aber wieder gutmachen, müsste dafür allerdings die beiden Quittungsblöcke aus dem Behältnis klauben und sie nachzählen. Mein Kumpel Andy gab mir zu verstehen, mein loses Maul zu halten und endlich mit Nachzählen zu beginnen. Sehr schnell bildete sich in dem Raum eine Schlan­ge von allen möglichen Leuten, die uns nun ihrerseits anmachten wegen der Akri­bie die wir an den Tag legten. Meinen Einwand, dass ich so etwas noch nicht mal in Polen oder der Zone erleben durfte, ließ der Grenzer nicht gelten.
“Po­lacken und die armen Deutschen nördlich dieser Grenze seien sowieso halbe Russen und deshalb für ihn nicht maßgebend.”
Aus den 600 Zetteln schichteten wir kreuzweise, erst Zehnerhäufchen, dann Fünfziger. Zum Schluss stimmte alles auffälligerweise.
Während dieser minutenlangen Aktion beobachteten uns die tschechischen Grenzer belustigt. Schade, dass wir nicht verstanden, was sie ne­benher für Kommentare abließen. Nach Beendigung der Zählerei hielt mir ein Grenzbeamter den Papierkorb hin, und ich ließ bedächtig Stapel für Stapel in das Behältnis schneien.
Dann kam das übliche Ausreiseritual, der oberste Genossen ermahnten uns – wie jedes Mal – in Zukunft die Meldebe­stimmungen der Tschechoslowakischen Republik zu beachten und alle gelobten – auch wie immer – beim nächsten mal Besserung.
Diese Ausreise war auch die letzte, auf dem un­echten Transit nach Westberlin durch das Schlaraffenland.

Da Čedok uns natürlich nicht helfen konnte, mussten wir uns etwas einfallen las­sen, also Einheimische fragen. Auf dem Weg zum Wenzels-Platz ereignete sich die erste Lektion für meine Freundin, als von mir ein distinguierter ältere Herr, erst Deutsch, dann Englisch, schließlich auf Russisch angesprochen wurde. Nach der letzten Anfrage blieb er ruckartig stehen und ging freundlich auf uns zu und erwähnte entschuldigend, dass er in Gedanken daher lief. Allerdings hätten ihn die russischen Laute in die Wirklichkeit zurückgeholt. In diesem herrlichen Deutsch mit tschechischen Akzent wurden wir gewissenhaft darauf aufmerksam gemacht, dass man in seinem schöne Land als Freunde jede Sprache sprechen könnte, außer rus­sisch. Der alte Herr geleitete uns zu einem nagelneuen Hotelschiff auf der Moldau und handelte eine Über­nachtung aus, die wir sogar mit dem Zwangsumtausch begleichen durften, was sich als sehr preiswert für diese Nobelherberge herausstellte.
Gabi verarbeitete immer noch die für sie sehr merkwürdige Reaktion des Man­nes, als sie auf dem Schiff etwas mitbekam, was nicht nachvollziehbar schien. Es geschah kurze Zeit später im Speisesaal des Schiffes. Obwohl wir in verwasche­nen Jeansanzügen auftauchten, schoss der Oberkellner sofort auf uns zu und erkundigte sich sehr freund­lich, wo wir sitzen wollten. Er empfahl einen Platz zur Wasserseite und schi­ckte sofort den verantwortlichen Kollegen für die Getränke. Anschlie­ßend erschien der nächste, der uns beriet, was das Essen anging. Da für alle Ge­richte, laut Speisekarte nur Knödel oder Pommes vorgesehen waren, erkundigte ich mich nach der Möglichkeit, Salzkartoffeln zu bekommen, „Kein Problem mein Herrr!“
Wenige Meter neben uns, an mehreren zusammengerückten Tischen, saß schon als wir kamen, ein älteres Ehepaar, das offensichtlich von den Kellern igno­riert wurde. Mittlerweile stand sehr artig wartend, ein weiteres Pärchen an den Stufen zum Speisesaal, welches erst zonenmäßig platziert wurde, als die Dame aus der Rezeption den Oberkellner flüsternd darauf aufmerksam machte. Sie lie­ßen sich ohne murren, zu den anderen bugsieren, weiter pas­sierte nichts. Langsam fand meine Freundin diese Art des Umgangs mit Nachbars unverschämt. Was mich nur amüsierte, mein Kommentar: „Die Tschechen bedan­ken sich halt immer noch für die erwiesene Hilfe, vom Juli ´68“, brachte sie auf hundert. Derweil unser Essen kredenzt wurde, registrierten wir das erneute An­kommen eines älteren Paares am Nachbartisch. Endlich erschien bei ihnen der Getränkekellner, sein nachfolgender Kollege maulte die Leute an, dass die Mittags­essenzeit gleich rum wäre und es die Sache vereinfachen würde, wenn sie alle­samt das gleiche bestellten, er könne Goulasch empfehlen.
Auf die zaghaft vorgebrachte Frage einer Frau, ob es denn machbar wäre, den Goulasch mit Salzkartoffeln zu bekommen, kam vom Ober sehr bestimmt: Nein! Der Hinweis mit Blick zu uns, dass ich doch auch ohne Probleme Salzkartoffeln bekommen hätte, beschied der Kellner auf seine Art. Er wippte auf den Zehen­spitzen, weit zu uns rüber gebeugt und gab die Antwort: “Meine Dame! Ich sehe bitt scheen am Nachbartisch auf den Tellern keine Salzkartoffeln, und wenn ich keine sehe, dann gibt es auch keine! Also was meechten sie dazu, bitt scheen?”
Unsere Anrainer schienen nun auch keine mehr Kartoffeln zu sehen, schein­bar waren sie froh, überhaupt noch etwas zu bekommen. Gabi flippte schließlich aus, als von mir, während der Bezahlung reichlich Trinkgeld in West zum Kellner floss.

Am späten Nachmittag landeten wir das erste Mal im U Fleku. Dort wies meine Freundin auf einen weiter entfernten Tisch. Von dort schauten junge Leute zu uns rüber und wir schienen deren Thema zu sein. Ich setzte meine Brille auf und registrierte ein Rudel aus Sangerhausen. Am Tisch wurde mir mit großen, er­staunten Augen und Stillschweigen begegnet.
Was is´enn los Leute, ihr glotz ja, als ob ihr ein Gespenst seht?
Ja…, aber…, schon merkwürdig Ede…
Ich habe es doch gleich gesagt, es gibt nur einen, der Zigarettenschachteln seitlich so aufreißt, und die Kippe bevor er sie anbrennt, zwischen den Lippen drehend anfeuchtet, dies macht nämlich nur der Alte…
Mann, Ede, das ist ein Ding…!
Sagt mal Leute, was ist denn mit euch los?
Ja, Ede, schon seit Jahren wird erzählt, dass du tot bist, Heroin und so…
Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da habt ihr nicht alles geglaubt…
War schon merkwürdig diese Situation. Da traf man im Ausland alte Bekannte, wo ich sonst Wochen gebraucht hätte, um sie alle mal zu sehen – ganze Arbeit von Horch und Greif. Gabi verstand nichts mehr.

Nachts im Hotel gab es einen Lichtblick. Die neue Empfangsdame erklärte sich bereit für einen Zehner weitere Unterkünfte zu besorgen. Freitag und Samstag, in einem während der Feiertage leer geräumten Arbeiterwohnheim am östlichen Stadtrand, und die restlichen Tage im Europa-Hotel am Wenzels-Platz. Dies hob Gabis Stimmung, denn sie sah sich schon die nächsten Tage stundenlang nach einer Bleibe umherirren.

Karfreitag, 14 Uhr, stand die Verabredung mit Nebel im U fleku an, was sich im Nachhinein nicht als günstig erwies. Dort meiner Freundin etwas bescherte, was sie veranlasste in Betracht zuziehen, dieses „schrecklich Land“ sofort zu verlassen. Dabei spielte ich aber, wegen meiner eventuell noch auftauchenden Großmutter nicht mit, was sie einsah.
Wir hockten in dem hinteren, sehr schmalen aber langen Raum, am Biergarten, tranken unser Bier, schnackten, als Trillerpfeifen ertönten und ein Rudel Bereitschaftspolizei mit gezogenen Gummiknüppeln den Saal stürmte. Bis dato herr­schte eine ausgelassene Stimmung, alles was als DDR-Hippie reisen konnte, schien sich wie immer hier versammelt zu haben. Es wurde bis zum Abwinken gesoffen, Zonen-LSD geschmissen, Blues geklampft und mehrere Mundies* – (*Mundies ugs. Mundharmonikas, Bluesharps) wim­merten.
Besoffene und Übernächtigte lagen in ihren Poftüten zwischen den Tischen – Mini-Woodstock auf Tschechisch. Plötzlich Chaos um uns herum, Fenster wurden aufgerissen, Taschen und Rucksäcke flogen nach draußen. Leute hech­teten hinterher und außerhalb ebenso zusammengeschlagen und mussten sich anschließend in Fingerstellung um die Kastanien und an den Wänden auf­stellen. Uns drei würdigte man keines Blickes, ringsherum prügelnde Uniformierte, die aber peinlichst Obacht gaben, dass uns nichts passierte. Es kam mir vor, wie inter­aktives Theater, und wir als Zuschauer mittenmang. Gabi bekam einen Wein­krampf und schrie, dass wir doch etwas unternehmen sollten. Nebel versuchte sie zu besänftigen und sprang hinter ihr her, hielt das Mädel fest, als sie in diesem Hexenkessel begann den offenbar Verantwortlichen dieser Aktion anzuschreien. Auch ich hätte bei diesem Typen zum Rocker werden können. Ein Zweimeter­mann im Ledermantel, der breitbeinig, seine Hände auf dem Rücken verkrampft hielt und dann und wann nur nickend ein Zeichen gab.
Nun schrie Gabi zu mir, schüttelte mich, schlug mir ins Gesicht, bis es gelang sie an mich zu pressen. Ihr Gesicht an meiner Brust und weinte sie hemmungslos, als sich ein junger Spund mit verheultem Gesicht hilflos vor uns aufbaute, “Seht ihr, so springen sie mit uns Ostlern um. Für die weite Welt haben wir nur eine Bahnsteigkarte, deshalb können sie mit uns solche Sachen anstellen. Euch lassen sie in Ruhe, da sie geil auf eure Knete sind …!”
Ein pfeifender Gum­miknüppel beendete seine Ost-Westbetrachtungen. Schon Richtig, aber was konnte ich mir dafür kaufen.
(In diesem Moment kam es mir. Wenn der wüsste, dass ich ein paar Jahre vorher manches dafür gegeben hätte, so etwas mal life zu erleben. Der konnte sich we­nigstens von tschechischen Bullen seine Fresse polieren lassen, was mir damals noch nicht mal zugestanden wurde, wegen meines PM 12´s. Spä­ter, als ich mich einige Wochen illegal im Tschechland aufhielt, verspürte ich aller­dings keine Lust auf solche Actions.)

Nebels Einwand, dass es sich um eine ganz gewöhnliche Polizeiaktion gehandelt habe, die man jederzeit in der Zone erleben konnte, munterte meine Freundin auch nicht auf. Zu guter Letzt waren wir nur noch zu fünft, einschließlich des Kellners und dem Leder bemäntelten. Gabi insistierte schluchzend, schrie dabei wieder den Zivilbullen um eine Erklärung an, der verzog keine Mine. Dann flüsterte er dem Kellner etwas zu und verließ beschwingt den Raum, der Angestellte wandte sich an uns, ließ über diese Polizeiaktion – die auf Wunsch der DDR-Behörden stattfand – so etwas wie eine Entschuldigung ab, obwohl uns ja niemand behelligte. Für diese Art von Humor gehörte ihm sozusagen eine in sein Fressbrett. “Ich meechte mich noch einmal bei ihnen entschuldigen. Bitt-scheen begeben sie sich zum Ausgang! Wir werden für sie auf Kosten des Hauses ein Taxi ordern, dass sie dann bitt-scheen in eine Restauration ihrer Wahl befördert. Ich wünsche weiterhin einen angenehmen Aufenthalt im goldenen Prag.”
Sprachlos bahnten wir uns einen Weg durch den Wirrwarr im Innenhof, und be­gaben uns zum Kalicha.
Am Ende dieser Fahrt hätte ich um ein Haar den Fahrer aufgetuckt(auftucken jemanden seine Fresse polieren, ihm ins Gesicht schlagen), als er versuchte das Zehnfache abzukassieren. Nach der Weigerung diesen unverschämten Preis zu zahlen, verstand er plötzlich kein deutsch mehr, und versuchte über Funk, Kollegen zu erreichen. Noch während des Aussteigens, Gabi und mein Kumpel blieben im Wagen sitzen, gab ich ihm zu verstehen, die Polizei zu holen. Sofort bewegte der Fahrer beide zum Verlassen des Wagens, verbunden mit dem Verzicht auf Bezahlung.
Zu später Stunde bestand Gabi darauf, allein ins Wohnheim zu fahren. Dieser Trip kostete sie ein Vielfaches, da der Droschkenkutscher genauso drauf war, wie jener vom Nachmittag.
(Samstagabend erlebten wir dann das ganze Gegenteil, kurz nach 22 Uhr in der Nähe vom Wohnheim auf der Suche nach einer Kneipe. Der Taxifahrer sprach zu unserer Verwunderung Deutsch mit rheinischem Akzent. Er stellte nach einer halben Stunde die Uhr ab, da es ihm peinlich wurde, um diese Zeit kein offenes Restaurant mehr zu finden. Ein Weilchen saßen wir noch im Auto und unterhielten uns. Der Typ war 68 nach Westdeutschland abgehauen, lebte seit dieser Zeit in Düsseldorf mit Frau und zwei Kindern.
Trotz Behördenwarnung reiste er wegen eines Todesfalles mit einem Staatenlosenpass ins Tschechland, da ihm die Botschaft zusicherte, dass er wieder ausreisen könnte. Aber Pustekuchen. Nach der Beerdigung ging es für ein paar Monate in den Knast, anschließend war er wieder tschechischer Staatsbür­ger, allerdings ohne Reisemöglichkeiten. Seine Familie ließen sie nur noch zu kirchlichen Feiertagen Besuchsweise einreisen, was er als sehr belastend em­pfand, da seine Kinder mit nichts mehr klar kamen.)

Sonntag, als wir mittags wiederholt die Räume im U Fleku ableuchteten, hielt mir plötzlich von hinten jemand die Augen zu. Ich drehte mich erschrocken um, nahm meine Mutter wahr, die in eine Ecke wies. Dort hockte etwas verstört meine Großmutter. Ohne meine Erzeugerin weiter zu beachten, steuerte ich zur Oma und knuddelte sie. Gabi rettete diese merkwürdige Situation, indem sie sich mit meiner Alten bekannt machte. Als erstes bekamen wir zu hören, dass es für beide nicht möglich schien Übernachtungsmöglichkeit zu finden, deshalb seelisch darauf eingestellt waren, die Nacht durchzumachen und mit dem ersten Zug wieder nach Berlin zu fahren.
Meinen Einwand, dass ich ein Zimmer besorgen könnte, brachte Mutter in Rage; “Wenn ich nichts bekommen habe, wird es der Junge auch nicht fertig brin­gen!”
” Lanta, wenn das Jungchen ein Zimmer besorgen kann, dann wird es schon so sein!”
Ich fand die Oma köstlich, da ich mir weiß Gott nicht sicher war, ob es klappen würde, außerdem gab es Jahre, wo ich zu der alten Dame keinen Draht fand.
(Dies eskalierte in der Zeit, als wir in ihrer Wohnung über ein Jahr nur schriftlich verkehrten. Meine Mutter legte damals für mich ein Heftchen an, auf dem stand: Ausgaben für Klaus
Dort rechnete sie mir sogar den Verbrauch von Streichhölzern vor. War sie der Meinung, ich hätte mal wieder eine ganze Schachtel verbraucht, trug sie 10 Pfen­nig ein. Am Monatsende wurde dann per Briefchen abgerechnet. Sehr oft, wenn ich mich in der Küche aufhielt, in der man sich kaum drehen konnte, wuselte Oma auch dort rum und führte Selbstgespräche. Dieser Psychoterror gipfelte oft in der Bemerkung, wenn Opa das wüsste, wie ich rum liefe und mich aufführte, er sich im Grab umdrehen würde. Wochenlang perlten diese Anmachen an mir ab, ohne ei­nen Ton von mir zu geben.
Schließlich war das Maß voll.
Es fing wie üblich an. Dann kam aber eine neue Variante dazu. Wenn es so weiter ginge, würde sie den Gashahn aufdrehen. Jetzt reichte es mir, ich schnappte die wesentlich kleinere Frau, klemmte ihren Kopf unter meinem Arm und drückte ihr Gesicht auf den vorderen Gasbrenner und öffnete den Hahn. Dabei schrie ich immer wieder, sie solle in sehr tiefen Zügen inhalieren, denn ich könnte diesen Terror nicht mehr ertragen.
Durch Omas Hilfeschreie stand plötzlich wie versteinert ihre Tochter ebenfalls kreischend an der Küchentür. Ich schubste daraufhin meine Großmutter in ihre Richtung, die sich, am ganzen Körper bebend, in den Sachen ihres Kindes ver­krallte.
Alles was auf der Arbeitsplatte stand, die Teekanne, meine Stullen, Butter und Wurst wischte ich noch runter und ging langsam auf beide zu, mit der Bitte, wenn wir uns schon nichts zu sagen hätten, auch wirklich Stillschweigen wahren sollten! Denn ein zweites Mal würde es nicht so glimpflich abgehen.
Dass ich mich so weit gehen ließ, bereitete mir Unbehagen. Es musste wohl erst so weit kommen. Anschließend lebten wir wenigstens als Fremde friedlich neben­einander.)

Gemeinsam spazierten wir zu unserem Hotel. Dem „Europa“ sah man mit viel Phantasie den Glanz der vergangenen Zeiten noch an. Auch die Bedienung schien noch vom alten Schlag zu sein, zwar etwas langsamer, aber sympathisch und zuvorkommend. Während alle einen Kaffee tranken, beschloss ich, etwas wegen des Zimmers zu unternehmen. Lanta stand mit auf, “Dies will ich sehen, denn das „Eu­ropa-Hotel“ war das einzige Hotel in dem ich schon nachfragte und den Bescheid erhielt, dass sie ausgebucht seien, und momentan in Prag auch nichts zu finden sei.”
” Wenn es sein muss, dann komm mit, aber gleich mit euern Ausweisen!”
Nölend suchte sie die Dinger raus und taperte mir nach.
An der Rezeption verlangte ich die Zimmerschlüssel und reichte auf Verlangen meinen Ausweis über den Tresen, aus dem ein Zehnmarkschein rausschaute. Da­bei bat ich den freundlichen Herrn doch einmal nachzuschauen, ob nicht zufällig ein Doppelzimmer für zwei Tage zu haben sei. Er reichte mir meine Schlüssel, gab mir den Ausweis zurück, wälzte dabei sehr aufmerksam den Anmeldungs­folianten und schaute dabei mehrmals zu mir auf. Ich verstand. Unauffällig fiel auf die Buchseiten ein weiterer Zehner den er sehr geschickt verschwinden ließ. Während dieser Aktion schaute ich grinsend zu meiner Mutter, die alles haarklein mitbekam. In ihrem Gesicht blankes Entsetzen, die Kinnlade ging dabei langsam nach unten.
Bitt-scheen mein Herrr, wie ich aus dem Buch entnehmen kann, hat vorr kurrzerr Zeit ein Ehepaarr abgesagt. Selbstverrständlich kennen sie krriegen diese kleine Zimmerr!“
Leicht verdutzt schaute er in unsere Richtung als ihm zwei Ostausweise rüber gereichte wurden. Dann drückte ich Lanta, die immer noch wie versteinert dastand, die Zimmer­schlüssel in die Hand und begab mich zurück in das Restaurant, kurz vor unserem Tisch überholte sie mich, außer Puste zu ihrer Mutter gewand: ” Oma, weißt du was der Junge jetzt gerade gemacht hat. Oma weißt du was er getan hat?”
“Was denn los, Lanta, du bist ja außer dir…!”
“Oma, der Junge hat den Mann am Empfang mit Westgeld bestochen…!”
“Na hat er denn ein Zimmer bekommen?”
“Ja aber…, er hat den…”
“Also wenn wir ein Zimmer haben, dann setze dich hin und trinke deinen Kaffee aus! “
Mit Tränen in den Augen ihr letzter Versuch: “Ja, aber er…”
Zu Oma gewand, „Logisch waren es Westmark, denn mit Ostknöppen wäre ich beim besten Willen nicht in der Lage gewesen ihn zu bewegen, mir auch nur ein Ohr zu leihen…”
Nun fuhr Gabi mir über den Mund und bremste mich aus. Für meine Großmutter schien nun alles erledigt, aber Lanta saß da, verstört mit einem Ausdruck im Gesicht, den ich nur einmal, vor sehr langer Zeit bei ihr bemerkte:
(Von Teilen des Geldes zur Jugendweihe wurde eine Kofferheule angeschafft. Während eines Besuches bei den Großeltern war ich mit dem Radio auf dem Bauch eingepennt. Lautes Gekeife weckte mich, triumphierend schwenkte sie den Transistor in der Hand: “Ich habe es immer gewusst, dass du dich nicht an dein Versprechen halten würdest, keine Westsender zu hören. Dieses Radio siehst du nie wieder!”
BBC lief noch, denn seit geraumer Zeit verfolgte ich regelmäßig, ab dreiviertel acht den täglichen Sprachkurs. Mit einem Schlag hellwach, sprang ich auf und versuchte heulend ihr den Kasten zu entreißen, in diese lautstarke Rangelei platzte mein Großvater und wollte wissen was anlag.
“Opa, der Junge hört den größten Hetzsender den es gibt! Den Londoner Rund­funk!”
Bitte denke daran, während des Krieges hast du ihn doch auch gelauscht!”
Dies war zu viel, außer sich, schrie sie ihren Vater an: “Aber Opa! Damals waren es schließlich ganz andere Zeiten! Das Radio kommt weg!”
Schon als Kind konnte ich immer wieder in der Familie Auseinandersetzungen zwischen beiden verfolgen. Er alter Sozi, seit Hallenser Studentenzeiten mit Kurt Schuhmacher befreundet und sie Stalinistin. An die­sem Tag erreichten beide den Gipfel ihrer ideologischen Zerwürfnisse. Mein Großvater griff das Radio, das sie in diesem Moment noch fester umklammerte und fragte mich, ob die Anschuldigung stimmen würde, kleinlaut nickend kam von mir, ” ja”. Seine nächste Frage betraf die Sendung die gerade lief. Schluchzend erfolgte die Antwort. Dann zu seiner Tochter gewandt, “Lanta, du musst endlich mal begreifen, dass es auch Dinge gibt, die man vom Klassenfeind lernen kann!”
Sie ließ das Radio los, schlug ihre Hände vors Gesicht und rannte aufheulend aus dem Zimmer. Opa stellte das Teil, ohne noch ein Wort zu sagen, auf den Tisch und ging.)

Genauso, wie damals kam sie mir jetzt vor, ich hatte in diesem Moment sogar et­was Mitleid, was allerdings nicht lange anhielt.
Anschließend brachte Großmutter einen zaghaft geäußerten Wunsch vor, sie wollte sich gerne die Burg und den Veitsdom anschauen.
Nach meiner nächsten Aktion gab es Zeck mit Gabi. Sie reagierte ähnlich wie mei­ne Mutter, und fuhr schließlich nicht mit, denn ich hatte wieder gezielt westliches Mammon ins Spiel gebracht. Mir war es gelungen einen Taxifahrer aufzutreiben, der für 30 DM bereit war, uns zwei Stunden durch die Stadt zu chauffie­ren. Dieses Schlitzohr hinterging mich allerdings leicht. Geil auf das Geld bejahte er meine Frage ob er etwas deutsch oder englisch verstehen würde. Dies bekam ich freilich erst mit, als wir in der Droschke saßen. Aber der Mann sprach sehr gut russisch. Diese Tatsache verschaffte mir ein merkwürdiges Erlebnis. Mit meinen Polnischkenntnissen vermischt, kamen wir ausgezeichnet klar. Unser Fahrer ent­puppte sich als professioneller Stadtführer mit Blick für Kleinigkeiten. Es war eine phantastische Tour, bis ich mitbekam, dass sich meine Mutter hinten mit selbstgefälligem Ausdruck an meinen Übersetzungen labte. In ihren Augen las ich nicht diesen Stolz so von Mutter zu ihrem Sohn. Mir kam es vor, dass es ihr wichtiger schien, dass ich die Sprache ihrer Klassenbrüder beherrschte, was sie mir sicher nie zugetraut hätte.
Diesem Vorurteil meinerseits schien sie in den nächsten Stunden noch viel Nah­rung zu geben, besonders als wir anschließend bummeln gingen. Unsere zwischenmenschliche Beziehung wurde ewig krankhaft vom Ost-West­konflikt beherrscht. Auch während ich das erste und einzige Mal mit meiner Großmutter Arm in Arm durch Prag spazierte, mit einem Draht zueinander, wie seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Dies schien ihrer Tochter zu kränken, denn sie stand außen vor.
(Was sollte es, schließlich war sie jahrelang, nach Besuchen bei meiner Schwester in Ostberlin, weiter in Richtung Hamburg durch Westberlin gefahren und dabei nie auf die Idee gekommen, sich auch nur einmal bei mir blicken zu lassen.)
Ihre anhaltenden verbalen Spitzen, begannen sogar Oma zu nerven, dass sie bat, mit dieser Sache aufzuhören. Schmollend gab sie eine Weile Ruhe. Nachdem wir uns auch eine U-Bahnstation angeschaut hatten, wollte meine Großmutter nur noch den kurz vorher eröffneten Hauptbahnhof sehen, „da er so hübsch gestaltet worden sein soll.“
Nach kurzer Zeit ging ich in die Luft. Meine Alte hatte begonnen während der Besichtigung ein paar Briketts nachzulegen. Oma zottelte an mir rum, so als Hinweis, lass sie doch reden!
Schau doch mal! Der schöne Marmor! Die schicken Lampen, die allgemeine Gestaltung, die großzügigen Fahrkartenschalter, die vielen Automaten, die vielen Rolltreppen und, und, und… Junge, gib doch endlich mal zu, dass nicht nur der Westen in der Lage ist so et­was Tolles zu bauen!”
Jetzt reichte es mir, ich brachte Oma zu einer Bank und forderte meine Mutter barsch auf, mir zu folgen, zeitweise schubste ich sie dann vor mir her.
So jetzt möchte ich mal was ablassen! Der Marmor auf dem du rumlatschst, stammt aus Italien, und jetzt öffne deine Augen sehr weit! Dort die Technik kommt von AEG, Siemens und Bosch. Sogar das Papier, auf dem sie die Fahrkarten drucken wird aus dem Westen geliefert.”
– An der Rolltreppe angekommen, wies ich auf die eingelassenen Logos.
Keine Schraube, die du hier siehst, stammt aus dem Osten! Sogar zum Zement hei­mischer Produktion hatten sie kein Vertrauen! Zur Planung haben sie West­technik herangezogen. Finanziert wurde der Laden mit Krediten, die das Tschech­land in Dollars und D-Mark zurückblechen muss!
Hier höre ich auf! Bitte dich allerdings, oben mal anzuschauen, wie diese schöne Stadt seit Jahrzehnten zerfällt. Das ist der Osten! So seid ihr Kommunisten! – Keine Butter, keine Sahne, aber auf´m Mond die rote Fahne…”
(Bis zur Abreise war es mir damit gelungen, ihr Mundwerk in diese Richtung zu versiegeln.)
Ich ließ sie stehen und holte meine Großmutter.
Wieder im Hotel interessierte mich natürlich brennend, wie sie es angestellt ha­ben, hierher zu kommen, denn mir war bekannt, dass sie von meiner Schwester aus Berlin kamen.
Oma schilderte mir das Drama ihrer Abreise, trotz eines zaghaft vorgebrachten Einwandes ihrer Tochter.

Kurz vor der Abreise nach Berlin, gab meine Großmutter die Parole raus: “Zu Ostern treffe ich mich mit Klaus in Prag, du hast bis Freitagabend Zeit, dies deinem Schwiegersohn zu vermitteln!!!”
Bis zum verabredeten Termin geschah nichts.
Samstag, beim Frühstück, bemerkte meine Schwester eine merkwürdige Gespanntheit.
Los Lanta sag es!“
Meine Mutter sprang schluchzend auf und verschwand. Oma wand sich an meiner Schwester und ihrem Mann: „Damit ihr Bescheid wisst, anschlie­ßend fahre ich zum Bahnhof, besorge mir eine Fahrkarte, um mich morgen mit Klaus in Prag zu treffen!“
Totenstille.
Oma stand auf und begann sich anziehen.
Was ist denn los Oma?“
Ich will zum Bahnhof!“
Jetzt brach ein Sturm los, Geschrei, Wimmern, hysterisches Geflenne. Zwi­schendurch betrat meine Mutter wieder das Zimmer.
“Was ist Lanta, kommst du mit? Er ist schließlich dein Sohn!”
Augenblicklich verstellte mein Schwager die Tür. Während seine Frau die Kinder in ein anderes Zimmer bugsierte, legte das Arschloch los.
Oma, wenn du dich mit diesem arbeitsscheuen Knastrologen triffst, darfst du die Schwelle meiner Wohnung nie mehr übertreten!!! Überlege es dir sehr gründlich!“
Dies war zu viel für die alte Dame.
Er musste das Gesagte es nochmals wiederholen. Was er freudig tat.
Nun legte Oma ganz ruhig los:
Mein lieber Wolfgang! Ich bin nicht nachtragend. Aber nun bist du zu weit gegan­gen! Wenn ich diese Wohnung jetzt verlasse und nicht mehr hier erscheinen darf, dann kommt so einiges, was ich für euch angeschafft habe mit. Ich hoffe ihr habt nicht vergessen, wie viel Geld ich in eure Behausung gesteckt habe! Es fängt bei den Dederon-Gardinen für ein paar tausend Mark an! …soll ich weitermachen?!?“
Sie schaute in die Runde, keiner sagte etwas.
So Lanta, kommst du nun mit? Und du, aus dem Weg!“
Oma! Überlege es dir noch mal, wenn das rauskommt, dass ihr illegalen Kontakt mit so einer Person aufnehmt, dies kann mich meine Arbeit kosten! Ich muss Mel­dung auf der Dienststelle machen! Bitte…!!!“
Dies ist alles ganz einfach. Du erzählst keinem, mit welcher Person wir uns treffen wollen. Von mir wird niemand etwas erfahren, von Mutti auch nicht!“ (Wobei ich mir da nicht so sicher war.)
Die alte Dame schob den Mann meiner Schwester beiseite, gab ihrer Tochter ein Zeichen, die folgsam angetappt kam, und gemeinsam holten sie die Fahrkarten. In den folgenden Stunden bis zur Abfahrt am nächsten Tag brannte die Luft.

Meine Mutter unterbrach sie bei ihren sehr detaillierten Schilderungen nicht, auch hakte sie später nicht ein, wenn ich Fragen von Oma beantwortete. Aller­dings hat Großmutter es nicht ganz gerafft, warum mich die Organe nie in Ruhe gelassen haben, obwohl ich niemals kriminelle Dinger drehte. Trotzdem stand ihre Tochter vorbehaltlos auf dem Standpunkt, dass ich mich, mit meiner Lebens­weise laut DDR-Gesetzgebung ewig strafbar machte. Oma akzeptierte es auch irgendwann, dass ich von dem Land, in dem ich 26 Jahre verbrachte, nur vom „Schweinestaat“ oder der „Zone“ sprach.
Zwischendurch ließ sie ab, “Wenn nur einiges von dem stimmt, was das Jung­chen mir jetzt erzählt hat, dann kann ich ihn verstehen, warum er nach dem We­sten wollte.”
(Auf die Retourkutsche „meiner Mutter“ brauchte ich nur wenige Monate warten. Die Mittei­lung vom Tod meiner Großmutter erhielt ich erst ein halbes Jahr später, außer­dem transferierte sie das geerbte Bargeld auf ein Konto meiner Schwester, “Damit, falls mir etwas passieren sollte, Klaus davon keinen roten Heller zu sehen bekommt!”
– Dann folgte eine Zeit, in der sie mit ihrer Tochter, lange kein Wort wechselte und anschließend Monate um Geld betteln musste, als ihre Waschmaschine den Geist aufgab.)

Am Tag der Rückreise gab es noch etwas Loriotmäßiges.
Stunden vor Abfahrt des Zuges hockten wir schon auf dem Bahnhof. Meine Mut­ter wuselte herum wie ein Eichhörnchen. War mal eine viertel Stunde weg, tauch­te kurz auf, meinte zur Oma nur resignierend, “nichts!”, und verschwand wieder.
Dies wiederholte sich mehrmals.
Großmutter, ob dieser Geschäftigkeit angesprochen, rückte nicht mit der Spra­che raus, daran hinderte sie ein Versprechen, welches sie vorher ihrer Tochter gab, mir auf keinen Fall mitzuteilen um was es ging.
Schließlich reichte es, da sind wir Stunden zu früher Stunde auf dem Bahnhof er­schienen, und jetzt musste ich feststellen, nur deshalb, weil die Frau etwas ganz Geheimes besorgen musste…
Ich bestand auf einer Erklärung.
Nach einigem Hin und Her – vorher musste ich noch zusichern während ihrer Aufklärung nicht in Lachen auszubrechen, trotzdem schossen mir die Tränen in die Augen. Beim ersten Teil der Schilderung verstand ich die Welt nicht mehr. Die ganze Zeit versuchte meine Mutter krampfhaft, Nuckel für Babyfläschchen zu ergattern, was ihr aber nicht gelang. Meine Schwester besaß mehrere dieser Fla­schen aus tschechischer Produktion, und es wurden immer mehr. Das eigentliche Verschleißteil gab es in der Zone nicht. Oder besser gesagt, nur mit Fla­sche unten dran.
Meinen Einwand, dass ich, falls sie es wünschte, ein Paket mit Flaschen und mehre­ren hundert Nuckeln loslassen könnte, wurde abgelehnt. Es ging nicht an, bei der Position die das Arschloch innehatte, dass seine jüngste Tochter ihre oralen Bedürfnisse an einem Plastikteil westlicher Produktion befriedigen sollte.
Von Oma kam die zündende Idee. Ich sollte das Zeug an Ruth, der Freundin meiner Mutter schicken, und die müsste dann erzählen, dass sie das Zeug besorgt hätte. Offenbar schien immer noch nicht alles erledigt.
Großmutter ließ einige Male ab. “Los Lanta rücke mit der anderen Sache auch raus!”
Erneut das gleiche Spiel wie vorher, und nochmals von mir ein Meineid. Oma nahm die Angelegenheit in ihre Hände. Sie holte sehr weit aus. Ihre jüngste Urenkelin zog sich vor Wochen durch das Windeln einen entzündeten Hintern zu, der auch nach wochenlanger ärztlicher Behandlung nicht heilte. Unbedarfterweise ließ die behandelnde Kinderärztin einen Klops ab. Ob ihres Misserfolges, was die Heilung betraf, fragte sie bei meiner Schwester an, ob es denn keine Westverwandtschaft gab, denn Penatencreme würde das Übel sofort beseitigen.
Da hakte meine Mutter ein, “war das nicht eine Frechheit, Jun­ge?” Ich prustete so laut los, dass sich die Nachbarn erschrocken zu uns umdreh­ten. Omas Augen lachten auch, Lanta verließ für eine Weile den Saal.
In die Lösung mit den Babyfläschchen wurde das Penatenzeug mit einbezogen. Nebenbei wollte ich noch wissen, welches denn nun die Position vom Schwager war, aber auch Oma rückte damit nicht raus, so zog ich die Schlussfolgerung, dass er bei der Stasi sein musste. War mir auch egal, denn wie er in meiner Erinnerung erschien, stand er immer unterschiedlich. Mir ist unbekannt, ob er jemals erfuhr, wie alles zusammenhing. Jedenfalls wurde wenigstens dieser kleine, rote DDR-Bürger-Arsch mit westlicher Hilfe zur Gesundung gebracht.

So merkwürdig wie sich die Osterwoche in Prag vom ersten Tag an gestaltete, klang sie schließlich aus.
An unserem vorletzten Tag stellten sich bei meiner Freundin die monatlichen Unpässlichkeiten ein, die immer mit Schmerzen verbunden waren. Deshalb wollten wir nach Ostberlin zu fliegen. Da es für mich, außer dem Transit von Wessiland nach Westberlin, keine andere Durchreisemöglichkeit gab, versuchten wir, auf der bun­desgermanischen Botschaft Erkundigungen einzuholen. Von dem Flug nach Schönefeld wurde abgeraten. Nach deren unverbindlicher Auskunft, würden mich im schlimmsten Fall die DDR-Behörden über Nacht einbuchten, und am folgenden Tag in einem anderen Flieger retour schicken. Dies schien für mich kein Grund auf den Flug zu verzichten. Also beschlossen wir, es darauf ankommen zu lassen.
In Berlin wurde gleich unten an der Gangway die Spreu vom Weizen getrennt. Außer ein paar Afrikanern waren Gabi und ich die beiden einzigen Weißbrote, die nach Westberlin ein Transitvisum benötigten. Im Gegensatz zu den anderen Mitreisenden sollte unser Weg nur die paar hundert Meter direkt nach Rudow gehen. Als erste mit dem Ausfüllen der Anträge fertig, gings zum Abfertigungsschalter.
Ein sehr wichtig tuender Uniformierter nahm die Papiere, schlug den Ausweis auf und im gleichen Augenblick kam der Spruch: „Herr Ring, treten sie beiseite, sie werden gesondert abgefertigt!“
(Diese Art von Sonderbehandlung widerfuhr mir nicht nur an der Zonen- Grenze. Mehrfach erlebte ich Ähnliches im anderen Teil Deutschlands, mit fast identischen Sprüchen. In den West-Medien wurde behauptet, dass die Ostgrenzer Markierungen in den Ausweisen vornahmen. Dies kann schon möglich gewesen sein. Ich bin aber der Meinung, dass der Westen mit dem Osten gekungelt hat und von ehemaligen Ostlern insgesamt die Ausweise gekennzeichnet wurden. War schon merkwürdig, wenn auf der Rheinbrücke bei Kehl der Grenzbeamte nur den Ausweis aufschlug, und mir gegenüber in schwerverständlichem deutschem Slang abließ:
Sieh da, wir stammen ja aus der Zone. Oder als ein bayrischer Genosse, der ebenfalls nur den Pass aufschlug, sofort abließ: Es sind immer die Gleichen, die irgendwo aufmucken! Wegen meiner Frage, ob er was gegen Preußen habe, da er sich damit seine Zeit vertrieb, indem er breitbeinig mit Feldstecherbewaffnung, aus einer langen Autoschlange nur Wagen mit Berliner Kennzeichen rausfischte. )
Meine Freundin bestand gleichfalls auf die Sonderbehandlung.
Wenig später begann die separat Abfertigung, natürlich von Grenzern mit viel Lametta auf ihren Jäckchen. Ob ich denn nicht wüsste, dass ich von dieser Art Transit ausgeschlossen sei – natürlich wusste ich es nicht!
Eine Einzelbehandlung sollte nun beginnen, worauf sich Gabi nicht einließ, sie wurde sehr bestimmt und langsam ungehalten, was für mich das Signal war, mit Sprüchen zu beginnen.
” Ihnen dürfte ja bekannt sein, dass wir die Möglichkeit haben, sie nach Prag zurückzuschicken!”
” Feiglinge!”
Nun folgten Belehrungen, die etwas länger dauerten, da ich die Leute bat, sich kurz zu fassen. Ausnahmsweise wollte man dieses Mal eine Transitgenehmigung erteilen. Unsere Papiere aber erst im Transferbus nach Rudow erhalten, anschlie­ßend war noch die Kontrolle der Rucksäcke angesagt. Dazu kam es nicht, denn ich gewahrte, auf dem Transportband endlos kreisend, meine auseinander geris­senen Klamotten. Dies war der Anlass, den mich begleitenden Genossen lautstark zu belegen.
“Gehört denn Tucholsky, bei euch nun auch schon zur Schmutz und Schundlite­ratur? Obwohl ich dieses Buch in Prag erstand und es sich um ein Ostberliner Produkt handelt?”
Mehrere andere Bücher kurvten ebenso dreckig und angerissen auf dem Band. Beim wiederholten Rucksackpacken ließ ich mir sehr viel Zeit, verscheuchte nebenbei den Zöllner, der sich an meinem Kram zu schaffen machte.
“Hör mal zu, deine Genossen haben doch schon alles durchschnüffelt, was wohl unschwer zu erkennen wäre. Du kannst mir höchstens helfen, mein Zeug zu ver­stauen, ansonsten hau ab!”
Nun gab´s Ärger mit meiner Freundin, weil ich nach ihrer Meinung nicht die feinste englische Art gebrauchte. Es stimmte, der jungsche Spund war wirklich nett, aber ich verachte “nette Leute”, denn für mich handelte es sich bei ihm um einen Zollknecht, der scheinbar schon immer in fremder, dreckiger Wäsche wühlen wollte.
Meine Bemerkungen perlten an dem Zöllner ab, egal was ich auch abließ, er blieb freundlich. Zuvorkommend bot er sich auch noch an, mich zum Reklamationsschalter zu begleiten, was ich mir verbat. Mit den deformierten Büchern machte ich mich in die Spur, er dackelte hinterher. Zwischendurch drehte ich mich blitzartig um und wollte von ihm wissen, ob er denn keinen anderen zum Spielen fand.
Es kam ein entwaffnendes Lächeln, er hatte gewonnen, und außerdem fand ich anschließend mein nächstes Opfer. Es handelte sich dabei um eine Frau, die mei­ne Beanstandung wegen der beschädigten Lektüre entgegennehmen sollte. Sie, hinter Panzerglas verbarrikadiert, versuchte, mich chefmäßig abzufertigen. Im er­sten Moment nahm ich an, dass es sich bei ihr um eine Kinokartenverkäuferin aus dem finstersten Connewitz (Ein Stadtteil von Leipzig, wo ein Haufen Freunde von mir wohnten.) handelte. Auf die Frage, warum sie nicht deutsch sprach, kam nur, dass ich, wenn ich etwas von ihr wollte, schon mit ihrem Dialekt vorlieb nehmen müsste. Also, die Regressforderung in Bargeld zu erhalten, ginge auf keinen Fall, aber es wäre möglich, ein Konto bei der Staatsbank der DDR einzurichten, und über die­ses Geld dürfte ich dann bei meiner nächsten Einreise verfügen.
“Sag mal, Mädelchen, willst du mich verscheißern?”
Den Hinweis, dass ich hier in ihrem Arbeiter und Bauernparadies den Status einer Persona non grata besaß, ließ sie nicht gelten. Es wäre aber auch möglich, das Geld z. B. für einen Freund anzulegen, der es während eines Besuches in unserer Deudsch Demogradschen Reblig ausgeben könne.
Darauf verzichtete ich dankend.
Wieder bei Gabi in der Halle, eröffnete sie mir, dass der nächste Bus gegen Mitternacht fahren würde. Also noch über vier Stunden Zeit und die musste doch ir­gendwie rumgebracht werden. “Jetzt möchte ich doch mal ausprobieren, wie lange es dauert, bis so ein Grenzfromms auftaucht, wenn ich hier rumstiefele.”
Kaum in Richtung Ausgang unterwegs, befand sich jemand neben mir, der mich höflich daran erinnerte, dass ich ohne Papiere polizeipflichtig sei und folglich den Wartebereich nicht verlassen dürfte.
Immer wieder gab es Leute die für meinen Hader grinsend Verständnis aufbrachten, im Gegensatz zu meiner Freundin, der langsam die Gesichtszüge entglitten. Nun folgte ihr Auftritt. Entgegenkommend erkundigte sie sich nach der Möglich­keit, mit einem Taxi bis an die Grenze zu fahren. Auflachend kam vom mir der Tipp, dem Genossen zu erklären, um welche Art von Fortbewegungsmittel es sich da handeln würde.
Es wäre auf keinen Fall möglich, jemanden separat an den Grenzkontrollpunkt zu fahren
Der Uniformierte war schon im Begriff zu gehen, als sie sich nach dem Roten Kreuz erkundigte, denn unerträgliche Unterleibsschmerzen fingen an, sie zu plagen. Normalerweise könnten ganz bestimmte Tabletten Abhilfe schaffen, die lägen aber zu Hause rum. Ohne auf die Frage einzugehen, trollte der Genosse sich und stand kurz darauf wieder da, mit der Information, dass man uns ausnahms­weise und auf der Stelle abschieben wollte.
In einem Barkas(Barkas – Kleinbus aus DDR-Produktion, ugs, auch Zonenbulli) mit Interfluglogo gings sofort in Richtung Grenze.
Auf einer betonierten Schneise, rechts und links mit Stacheldraht verziert, wur­den uns die Papiere ausgehändigt und als wir aus dem Fahrzeug stiegen, gingen ringsum Scheinwerfer an, so gleißend, dass fast nichts zu sehen war. Während das Fahrzeug beidrehte, bat mich Gabi inständig, in dieser Situation keine Sprü­che abzulassen.
In Bruchteilen von Sekunden war ich von Null auf Hundert. Diese dämliche Braut, da glotzten uns aus der Dunkelheit zig Mündungen der berühmten AK 47 an, ringsherum heulten Hunde, im Rücken die Geräusche vom Flughafen, wem sollte ich denn hier und in diesem Augenblick einen Kommentar angedeihen lassen? Momentan war das HB-Männchen ein Scheißdreck gegen mich, aber aus tausenden von Gründen hätte ich zum Rocker werden können.
(Mir kam bisher nur einmal so ein flaues Gefühl im Magen hoch, zwei Jahre vorher, beim Überschreiten der Grenze, nahe Strabane, während meiner Einreise von Donegal nach Nordirland.)
Dann erreichten wir einen Streckmetallzaun, wobei etwas Rolltorähnliches die weiterführende Straße blockierte. Irgendwoher, ganz in unserer Nähe, quäkte plötzlich blechern in mitteldeutschem Slang die Frage, was unser Anliegen sei.
Während ich Luft holte, krallte sich Gabis Hand in meinen Bart, um mir den Mund zu verschließen.
Nun war alles zu spät, was sollte in dieser Situation solch bescheuerte Frage. “Ich wollte mir nachts mal den Zaun ganz allein mit meiner Freundin von der anderen Seite anzuschauen. Sie werden es sicher nicht glauben, aber in der Abflughalle des vor ihnen liegenden Feldflughafens, trafen wir auf sehr nette Leute, die uns dabei unterstützten,” kam so laut, wie es im Rahmen meiner etwas eingeschränkten Möglichkeiten machbar war. Prompt begann meine Freundin mit Tränen in den Augen, mit mir zu zetern. Fast am Rand eines Nervenzusammen­bruchs brachte sie die Tatsache, dass auf jeden Satz von ihr ein Kommentar meinerseits folgte. Schließlich gab ich nach, und ihr sogar Recht: Denn es lag halt nur an meiner infantilen Art, dass wir auch hier wieder so lange warten mussten!
(Weder sie, noch andere Freunde und Bekannte aus Wessiland, haben je geschnallt, was sich bis zum Schluss, bei innerdeutschen Grenzüberquerungen, für eine Wut in meinem Bauch befand. Nie ließ ich dabei etwas anbrennen. Immer wieder wurde bei Transitfahrten an mich appelliert, die Schnauze zu halten. Was mir in den seltensten Fällen auch gelang. Es sei denn, ich lag pennend, bezecht oder bekifft im Fond eines Hirschleins.
Alles änderte sich schlagartig, als im Osten mit der Dienstanweisung raus kam, dem Klassenfeind etwas freundlicher entgegenzutreten, und diese Direktive war nur den Milliardenkrediten von F.J.S. zu verdanken.
Eine von mir penetrant angebrachte Nichtigkeit brachte die humorlosen, unifor­mierten Arbeiter und Bauern fast zehn Jahre endlos in Rage. Seit Anfang der Achtziger rasierte ich mir, bis auf den Rest eines Teil-lrokesen-Scheitels, meine Birne und trug im einen zweizöpfigen Bart. Wenn mich Grenzer während der Abfertigung lange fixierten und ewig mein Aussehen mit dem Passbild verglichen, auf dem ich noch mit langen Haup­t- und Gesichtshaar auch ohne Schieleisen abgelichtet war, begann ich im Gegenzug ihre drögen, gewichtig aufgesetzt­en Minen zu kopieren. Zwischendurch schielte ich und grinste sie unverschämt an, was viele verunsicherte, aber meinen Mitfahrern verborgen blieb. Oft kam dann noch: “Setzen sie bitte mal ihre Brille ab!”, prompt kam von mir sofort die Ge­genfrage: “Soll ich auch ein Ohr freimachen?”
Jedenfalls habe ich nie verstanden, warum sich Hunderte von Millionen Transitreisende, jede Schikane aus dem Osten gefallen ließen. Politisch, speziell ökonomisch wurde ja zwischen den Staren beider deutschen Staaten immer alles abgekaspert. Was an den Grenzen passierte, brauchte jene Politiker nicht zu interessieren, denn die verfügten schließlich über Luftbrücken.)

Da Gabi auch zu diesen, ewig mit Bammel behafteten Wessis gehörte, ließ ich sie schließlich ihren übertrieben höflichen, untertänigen Salm ablassen. Das Tor öffnete sich summend einen Spalt, vorsichtig ging es weiter. Dann über Megaphon die Anweisung, dass wir schneller gehen sollten, schließlich könnten sie sich nicht stundenlang mit uns befassen.
“Schon klar, die Nasen müssen das Tor wieder dicht machen, weil es zieht!”
“Du Idiot, halt deine Schnauze!”
Ohne weiteren Wortwechsel wurden wir unsere Papiere los. Hinterher öffnete sich das nächste Tor in 30 bis 40 Metern Entfernung.
Niemandsland
Dann Bitumen unter den Hufen. Die westliche Seite.
Kam man vom Osten, stand auf der linken Seite vor dem großen Wendekreis eine Butze der Polizei, etwas weiter vorn rechts befand sich die Bushaltestelle des 41ers.
Froh, endlich im Westen zu sein, schlamperten wir mitten über die der Straße diagonal in Richtung Haltestelle, da kam aus dem Häuschen die Frage, wieso wir um diese Zeit allein und zu Fuß aus dem Osten kämen.
“Dass kann ich euch sagen. Wir haben eine feuchte Wohnung, sind deshalb ein bisschen spazieren gegangen und haben uns dabei verlaufen!”
Meine Antwort schien die Jungs nicht zu befriedigen.
Gabi übernahm die Regie.
(So groß ist der Unterschied nicht bei Leuten, die freiwillig in eine Uniform kriechen, es ist auf beiden Seiten ein ganz bestimmtes Klientel, das sich dafür hergibt. Deshalb gleichen sich die Reaktionen.)
Versöhnlich stimmten mich die beiden mümmelnden GIs etwas abseits vor der Haltestelle. Einer lehnte gelangweilt am Jeep, der andere saß auf der Beifahrer­seite, auf dem Fahrersitz lag ein Backgammonspiel, nur das Klappern der Würfel und leise Musik drangen herüber.
Noch während wir auf den Bus warteten, kam durch die Mauer eine etwas klapprige Wessi-Ente gekrochen.
Die Polizisten winkten sie zu sich ran, alsbald entwickelte sich dort ein geräuschvoller Disput, der damit endete, dass der Fahrer nach dem Einsteigen sehr laut seine Tür zuknallte, dann auf die andere Straßenseite fuhr und bei uns hielt, um sich zu erkundigen, wie er am schnellsten nach Charlottenburg käme.
Da es unsere Richtung war, fuhren wir gleich mit. Als er seine Bekannten nicht erreichte, bekam er von uns politisches Asyl.
Der Kumpel, im Ruhrpott beheimatet, war schon seit geraumer Zeit überfällig. Am Nachmittag aus Polen kommend, sah er irgendwann ein Schild mit der Aufschrift: – Berlin – und war deshalb schnurstracks in Richtung Grenze gepeest.
Aber Scheibenkleister!
Auf der Ostseite nahmen sie die Karre auseinander, wurde stundenlangen Verhören ausgesetzt und musste als Krönung noch 300 DM Strafe zahlen, wegen „unberechtigten Verlassens des Transitweges“.
“…dann diese dämliche Frage der West-Bullen, wieso ich hier einreisen würde, wenn ich aus Polen käme?”

COCAINE-TIMUR UND SEIN TRUPP – ’78

Natürlich wurde am Biertisch auch darüber spekuliert, wie man schnell eine dicke Ma­rie machen könnte, um anschließend für immer in die Karibik zu verduften – Licht, Luft, Sonne, Käthen und das beste Gras wo gibt.
Was aber, wenn man bürgerlich gehandicapt ist?
Irgendwann gehen einem diese eckigen Seifenblasen mächtig auf den Keks.
Trotzdem tauchte immer mal wieder jemand auf, für den es ein Bedürfnis schien, uns zu langweilen, um sich dabei verbal einen runterzuholen. Jene Nervensäge spielte damals ein junger Typ, ebenfalls aus Ostberlin, sein Lebenslauf glich Bummis, nur schien er etwas besser drauf zu sein. Eines Tages kam er ganz aufgeregt an unseren Tisch, gab zum Besten, dass ihn ein älterer Herr für eine Woche nach Thailand einlud. Schien nichts Ungewöhnliches zu sein. Klar, konnte ja schließlich jedem passieren.
Von Achim kam nur: „Entweder du bist jetzt auch für die Frauen­welt verloren, oder dein netter Herr weist dich als Kurier für harten Dope ein. Na dann viel Spaß!“
Richtig wütend verschwand unser reiselustiger Genosse.
Hier möchte ich alles arg verkürzen.
Er kam braungebrannt retour, um ein paar Wochen später wieder gemeinsam nach Bangkok zu jetten. „Und Leute – nix mit schwul und so.“
„Dann das andere!“
„Ihr Idioten seid doch nur neidisch…“
Diese geschwätzige Flachzange stand vor seinem letzten Trip nochmals im Zil­lemarkt auf der Matte, „Ätsch – ihr Blödmaxen, ich mache jetzt eine Reise über Thailand quer durch die USA. Ich werde euch schreiben!“
Mittlerweile schon ein weit gereister Weltmensch, flog unser Traveller allein von Bangkok über San Francisco nach New York. In NYC wurde er gefragt, ob er einen kleinen Lederkoffer für den netten spendablen Herrn mitnehmen könne, den selbiger, welch Pech, leider ein paar Tage vorher vergaß. Natürlich konnte er.
Ihn übermannten in der Situation sicher Erinnerungen aus Kindheitstagen. Denn als Ableger roter Zecken schien er bestens mit „Timur und sein Trupp“ vertraut. Kernaussage jenes Bolschewiken-Bestseller für Heranwachsende: Jeden Tag eine gute Tat. Warum soll­te er da nicht seinem Reisesponsor einen Gefallen tun?
In Frankfurt wurde unser Spezie hopp genommen, mit von der Partie waren sei­ne beiden Sitznachbarn aus dem Flieger. Als unbedarfter Drogenkurier und guter Pionier bekam er nur vier Jahre aufgebrummt. Allerdings war die Angelegenheit noch mit einem kleinen Haken behaftet, denn er stand wegen jener Gefälligkeit beim deutschen Zoll mit 280 000 DM in Kreide, für illegal eingeführten Koks.
Ein dreiviertel Jahr später.
Mit Freunden lungerte ich in Europas größter Diskothek dem „Sound“ rum. Plötzlich stand Achim aufgeregt neben mir: „Alter, wir haben eben unseren weit gereisten Freund getroffen, der eigentlich noch in Tegel hängen müsste. Der meinte nur, als ich ihn anquatschte, dies wäre eine Verwechselung, allerdings verdünnisierte er sich daraufhin verdammt schnell.“
Tja, es gibt Leute, die versuchen nie, über ihren Schatten zu springen.
Da schien er doch schon wieder jemandem einen Gefallen zu tun, aber einen, der tödlich ausgehen konnte. Wir nahmen an, dass unser Timur nun für den Trupp des Rauschgiftdezernats auf dem Strich ging.

EIN ZENTNER KNETE – ’78

Bummi kam aus einem Stall mit DDR-spezifischen Edelkommunisten als Eltern.
Aber nach dem, was eigentlich so Vater- und Muttertier ausmachten, hätte man beide not­schlachten sollen.
Kaum das Abi in der Tasche, versuchte er sofort, sich über Ungarn nach Öster­reich zu verflüchtigen. Es blieb aber nur bei dem Versuch. Ähnlich wie bei mir, en­dete der Wandertag am Draht, da ihm die Ohren und Nase eines Deutschen Schäferhundes dazwischenkamen.
Nach seinem Urlaub im ungarischen Staatsgefängnis bastelten die Genossen in Hohenschönhausen monatelang herum, bis sie für diesen Trip eine Belohnung von 4 Jahren zusammen bekamen. Da zählte sogar strafverschärfend, dass er sich in seinen letzten Schulferien “den Zugriffen der staatlichen Organe der Dä Dä ÄR” entziehen wollte. Anschließend hieß es bis zum letzten Tag, den ” humanistischen Strafvollzug” in Brandenburg genießen.
Gleich zu Beginn seiner Knastzeit sagten sich Vati und Mutti schriftlich von ihrer missratenen Brut los, um ihre sozialistische Laufbahn nicht zu gefährden.
(Schon damals kam mir auf, im Nachhinein sehe ich es noch radikaler. Auch in dieser Scheißsituation, bleibt bei einem Ende mit Schrecken wesentlich mehr für sich selber übrig, als bei den allmählichen Schrecken ohne sichtbares Ende. In den Jahren verpufft ein Haufen Energie, denn Hass ist ein gefräßiges Hydra, aber früher oder später gewöhnt man sich an ihr unsichtbare Präsenz, von da an geht es einem wie Elwood mit Harvey…
  – Allerdings habe ich bereits zu früheren Jahren, einen sehr wichtigen Hinweis vom Großvater verinnerlicht: „Beginne niemals irgendwelche widerwärtigen Individuen zu hassen, denn grenzenloser Hass kehrt sich irgendwann nach innen und frisst dich schließlich auf. Wenn du nach bedenklichen Situationen etwas zum Selbstschutz unternehmen musst, lass jene Leute von Anbeginn deine Verachtung spüren, aber immer nur auf eine ruhige und möglichst süffisante Art!“
Gott sei Dank, ich kenne beide Seiten, bemerke aber, dass jenes Füllhorn aus behüteten Kindheitstagen nicht bodenlos ist. Hinzu kam, dass auch die Umgebung mächtig abfärbte…)
Bummi, besser gesagt das, was von ihm übrig geblieben war, lernte ich beim Psychodoc Ham­pel kennen. Wir liefen uns außerdem bei unseren Behörden­gängen immer wieder über den Weg. Beiden war uns das Glück hold, tagelang aus dem Marienfelder Auffanglager separat in Luxusschlitten zum CIA nach Dah­lem gekarrt zu werden.
Diese ganze Angelegenheit mit den Geheimdiensten fanden wir einfach nur lächerlich. Beginnend beim Staatsschutz in Gießen, der dort sogar Obacht gab, dass ich in der ersten Nacht im Lager nicht bei einer Käthe, die ich im Bus aus Chemnitz kennen lernte, unter die Bettdecke kroch. (Während eines längeren Gespräches stellte sich heraus, dass ich ihren Bruder aus Rostock kannte.)
Zum Piepen war es beim Secret Service und der Surité, die im gleichen Haus residierten, wobei es bei den Franzosen in der Regel nur darum ging, dass jemand sehr gewichtig auf den Laufzettel einen Stempel knallte. Hinzu kam, dass man sich verpflichten musste, dem anderen Kollegen nichts zu erzählen über die gestellten Fragen und den daraus resultierenden Antworten. Mir ging dies am Arsch vorbei, schließlich war ich schon in Gießen unangenehm aufgefallen, da ich nicht Klavier spielen wollte. Ich tat dabei meine Meinung kund, wenn sie schon die Fingerab­drücke von mir haben wollten, sie diese sich doch bitte schön, aus der Zone, von Mielkes Bütteln besorgen sollten. Warum haben die Drüben, nicht wirklich alles mit rüber gegeben? Als Antwort kam, sie verfügten über verdammt viel Zeit und ich dürfte das Lagergelände nicht verlassen.
Berlins Geheimdienstler am Platz der Luftbrücke waren identisch mit denen ein paar Kilometer weiter in der „Hauptstadt“.
Schon merkwürdig, Geheimdienstmannen sind fast überall gleich. (Die ungarischen Genossen machten eine Ausnahme! Alles was mich damals betraf, schien ihnen scheißegal zu sein. Dies muss ich mal lobend erwähnen.) Im­mer schlecht gespieltes, dümmliches Gehabe und dauernd der lächerliche Versuch sich als die wichtigsten In­dividuen auf diesem Planeten zu verkaufen, mit ewig wiederkehrende identisch-idiotische Fragen und Bemerkungen, und die können auf Dauer sehr nerven. Dabei sind “Vernehmer” doch nur Knechte, des imaginären Räderwerkes der Exekutive, die verbale Scheiße quirlen müssen, um sie dann zu verkosten ob nicht ein Brösel drin ist, der zum Puzzle der Mosaikspionage passt.
Bummi spielte in der ersten Zeit immer wieder mit dem Gedanken, sich zu entlei­ben, was er schließlich verwarf. Trotzdem war mit dem Jungen rein gar nichts anzufangen, hatte Bammel ins Kino zu gehen, traute sich nicht in Knei­pen, hockte im Rotkreuzheim nur auf seiner Viermannbude rum und litt mächtig unter Heimweh. (Ich vermutete, dass er als junges Frischfleisch, unter den Augen der Vollzugsbeamten, in Brandenburg sofort mit einem BVer* (ugs. Knastjargon, Berufs Verbrecher) verheiratet wurde.)
Dann verlor ich ihn monatelang aus den Augen.
Als sich unsere Wege wieder kreuzten, gingen wir sofort auf ein Bier, währen dessen blubberte der Junge ohne Punkt und Komma los. Als erstes kam die Einladung zu seiner demnächst stattfinden Geburtstagsfeier. Bummi lebte mit einer sehr sympathischen, gleichaltrigen kleine Wessibraut aus Südwestdeutschland zusammen. Das Mädel wohnte für ein Jahr an der Rennbahn Marienfelde, in einem Silo für Leute aus Wessiland, die in Berlin ihren Erstjob aufnahmen, dort war er in ihrem kleinen Wohnschließfach untergekrochen.
Die Fete fing so lala an, allerdings fast fifty fifty Ossis und Wessis, um die 15 Leute in dem kleinen Loch. Von Zoniseite aus, war es natürlich übermackert und Ursel hatte noch nie solch ein Rudel erlebt, welches ganz anders drauf war, besonders was harten Alk anging.
Mann, taten sich da Abgründe auf. Am Anfang fanden es die Bekannten von Bummis Freundin noch witzig, na ja, mehr interessant, wie in einem Erlebnis­zoo, inmitten von anders gearteten menschlichen Wesen. Es fing an, sich zu wan­deln, als es um die Musik ging. Ost wollte alte olle Schdonsgamellen*(ugs.sächsisch, Hits der Rolling Stones), West die gerade angesagten Hits.
Weil das Geburtstagskind mehr zu den älteren Sachen neigte, liefen auch mehr diese Klänge, bald begann eine intensive Anbaggerei, was den Südländern irgendwann überhaupt nicht mehr zusagte.
Bummi litt unter panische Angst, vom Haschisch rauschgift­süchtig zu werden und seine Freundin lehnte kiffen auch strikt ab, deshalb pickte ich still auf dem Balkon das Hörnchen ein, statt mich abzufüllen und beobachtete dabei durch die Fensterscheibe das Treiben im Inneren. Die Tür sollte wegen des Lärms im­mer gleich wieder geschlossen werden, deshalb bekam ich fast nichts von der Konversation mit, hörte das Wummern der Bässe, dazwischen noch lautere Gesprächsfetzen, die aber keinen Sinn ergaben, und sah dabei wild gesti­kulierende Leute, die diese Laute ausstießen. Dann registrierte ich, dass Bummi und seine Freundin längere Zeit im Zimmer nicht anwesend waren. Es stellte sich heraus, dass es wegen der Lautstärke Beschwerden aus der Nachbarschaft gab und beide in der Winzküche einen Disput ausfochten, in deren Folge die Musik etwas leiser gestellt wurde.
Ich weiß nicht mehr, wie Bummi dazu kam, jedenfalls besaß er einen Karton mit seinen alten Zonenscheiben, und wollte aus ihm ein Teil spielen, was nicht ankam. Denn nach Wessimeinung konnte es nur Schrott gewesen sein, was drüben produziert wurde, da auf DT 64 auch nur Westmusik dudelte. Wobei sich zwei Gruppen bildeten und ich mich auf Seiten der Bundis wieder ­fand, allerdings nicht so undifferenziert wie sie. Die sich entwickelnde Streiterei, veranlasste mich wieder auf den Balkon zu verschwinden, in der einsetzen­den Dämmerung betrachtete ich das Treiben unten auf der Straße und der Laubenkolonie. Dann stand Ursel neben mir, Tränen kullerten über ihre Wangen. Sie wollte von mir eine Erklä­rung, warum Bummi immer so merkwürdig daherkam. Was sollte ich dazu schon ablassen. Schließlich reichte ihr mein Zuhören, und musste entsetzt feststellen, dass sie nach Monaten des Zusammenseins, fast nichts von ihrem Freund wusste. Ab und zu schaute Bummi durch das Balkonfen­ster zu uns raus, dabei lächelten sich beide gequält an. Auf ihren Einwand hin, dass sie dies alles nicht mehr aushalten könnte, nahm ich sie in die Arme. Lautlos, am ganzen Körper bebend begann sie hemmungslos zu weinen. Ihr Freund regi­strierte dies, kam aber erst ein paar Minuten später raus und umarmte uns beide, auch mit Tränen in den Augen. Damit konnte ich nun überhaupt nicht umgehen, entzog mich sanft beider Umarmungen, ging nach drinnen, leerte eine halbe Flasche Wodka auf Ex und wollte gehen. Ließ mich aber schließlich zum Bleiben über­reden. Gleichzeitiges Kiffen und Saufen ist, wie gegen den Wind Pinkeln, deshalb verzog ich mich erst mal auf den Topf. Als Sitzpisser musste ich eine ganze Weile eingeratzt sein, lautes Türklopfen weckte mich. Außerdem kamen aus dem Wohnzimmer jetzt ganz andere Geräusche, leise Musik lief, und so wie bei einem Feuerwerk, “Ahhs” und “Ohhs”. Ins Zimmer wankend registrierte ich, ausnahmslos Frau­en hockten im Raum und die Typen schafften sich mit großem Hallo auf dem Balkon, vorn weg Bummi. Dann bekam ich mit, was diese Idioten trieben. Alles machte sich über seine Ost-Platten her. Zerrissen die Cover in kleine Schnippsel und schmissen sie wie Konfetti ins Zimmer, die Venylscheiben segelten in Richtung der Kleingartenanlagen. Unten auf der Straße war auch Gau­di angesagt. Einige Halbstarke trieben ebenerdig das gleiche Spiel. Aggressiv ging ich dazwischen, wollte noch etwas retten, aber hoffnungslos. Da gingen Platten über die Wupper, die für mich mal einen nicht zu beschreibenden ideellen Wert darstell­ten, an denen ich zu Zonenzeiten hing. An die ich in der Provinz, nur unter größten Schwierigkeiten gelangt war, und sie während meiner letzten Monaten dort, weit unter Preis verkloppte, hauptsächlich für Suff und Chemie.
Scheiße, da flogen sie dahin. Jene einzigen, für meine Begriffe vernünftigen AMIGA-Erzeugnisse: die Folkbluesscheiben; Jazz, Lyrik, Prosa; die Beaz, Pete Seeger; Dylan, die Beatles… Folklore aus dem ganzen Ostblock, Bachwerke gespielt auf Silbermannorgeln. Das Geburtstagskind hämmerte die restlichen Scheiben wie ein Bekloppter auf die Balkonbrüstung und versuchte sie anschließend durch hin und her biegen zu zerbrechen, rasend vor Wut.
Stinksauer rannte ich nach unten, es war aber nichts zu retten. Oben sah und hörte ich die Meute, Bummi schien nicht mehr bei Sinnen zu sein.
Langsam schlich ich von dannen, fast schon an der U-Bahn kam mir: was, wenn Bummi durchdreht, außerdem lag mein Parka noch in der Wohnung, also zurück. Oben begannen sich die Reihen zu lichten, zwei Mädels fingen an aufzuräumen. Jemand gab mir ein Zeichen nicht auf den Balkon zu gehen. Bummi lauerte dort, beide Hände in die Brüstung gekrallt und starrte ins Nichts. Ursel stand außen, mit dem Rücken an die Tür gelehnt, hinter ihrem Freund und blickte ihn gebannt an. Ich glaube, in ihr stieg Angst hoch, dass er mit dem Gedan­ken spielte, Schluss zu machen. Leise rief ich seinen Namen. Endlich drehte er sich um, packte meine Schultern, drückte mich kurz, verschwand in der Küche.
” Der wird sich doch dort nichts antun?”
“Quatsch, hört auf, so etwas zu denken!”. Von meinen Worten war ich allerdings selbst nicht überzeugt, setzte mich an den Tisch und begann ein Dreiblatt zu bauen. Platzierte es anschließend unter dem Firmenetikett meiner Baskenmütze und schmiss mir den Parka über. Von Ursel verabschiedete ich mich durch Strei­cheln, sie hockte umschlugen mit ihrer Freundin auf dem Sofa und beide weinten. Nun musste es schnell gehen, ich klopfte noch an die Küchentür, ” He, Bummi! Gib Laut! – Gehörprobe!”
Nichts.
Nach nochmaligem Klopfen, “los komm rein Ede, du Arschkeks.”
Ich fand ihn, im Dunkeln auf dem Boden hockend, mit beiden Armen seine Knie umschlungen, “Machs gut, Stary!” klopfte auf seine Schulter und wollte beim Rausgehen die Tür hinter mir zuziehen, “lass auf, Alter!”
Im Flur lief mir Ursel in die Arme. Nachdem ich mich von ihrer Knuddelei befreit hatte, kam noch: “Sag mal, seid ihr immer so gewesen?”
“Glaube nicht”, allerdings konnte ich mit ihrer Frage nicht so richtig etwas anfangen.
Längere Zeit herrschte Funkstille zwischen uns, unerwartet rief Bummi an, sein Abi wollten die Behörden unter sehr fragwürdigen Gründen nicht anerkennen. Größtes Hindernis schien die lange Haftstrafe nach dem Schulabschluss zu sein. Es bestand aber die Möglichkeit, zu Beginn des neuen Schuljahres probeweise in die 13. Klasse einzuschulen, oder sofort in eine schon laufende 12. Klasse zu gehen.
Kurz nach diesem Gespräch tauchte er abends wieder mal im “Zillemarkt” auf und ließ einen Haufen Blödsinn mit Andeutungen ab, dass er demnächst auch an das Große Geld herankommen würde, denn ein alter Kumpel aus Brandenburger Tagen war aufgetaucht.
Kurz darauf presste jemand neue Hüte, aber mit riesigen Krempen. Es war auch von einem bewaffneten Bankraub die Rede. Als ich dann im “Tagesspiegel” das Konterfei seines Spezis mit Steckbrief sah, beschloss ich, Ursel anzurufen. Tagelang ging niemand ans Rohr. Es stellte sich heraus, dass die Sache mit dem Knack den Tatsachen entsprach und sie sich wegen der Pressescheißfliegen ei­nige Tage im Wessiland aufhielt. Wir trafen uns, zu ihr nach Hause wollte ich nicht, und sie in keine Kneipe, also gingen wir spazieren. Dabei spulte Ursel alles ab, ange­fangen von Bummis Geburtstagsfete, bis zu seiner Verhaftung. Nebenbei, ihr die Beziehung von den ersten Tagen an Kopfzerbrechen bereitete. Dass ihr Schmusie im Osten einsaß, wusste sie freilich, aber nichts von den vier Jahren. In den ganzen Monaten, die sie zusammen ver­brachten, gingen fast alle Aktivitäten von ihr aus. Der Aus­setzer am Geburtstag gab ihr schwer zu denken. Da hätte sie Schluss machen müssen, denn die ewigen Depressionen von Bummi gingen ihr langsam auf den Senkel, obwohl sie ihn immer nett und zuvorkommend fand. In jener Nacht waren sie sich auch das erste und einzige Mal horizontal eins. Sein Schwur, dass von nun an al­les anders würde und er alles unternehmen wollte, damit man sein Abi doch aner­kannte, um sofort ein Studium zu beginnen, rutschte bald in Richtung Meineid weg.
Anfangs ließ sich alles gut an, aber dann kamen die Rückschläge während der Behördengänge. Von einem Schlag auf den anderen, war keine Rede mehr vom Abitur, nur noch vom großen Geld. Bummi schien wie ausgewechselt. Tag und Nacht unterwegs, er­zählte aber nicht, was er trieb. Schließlich lernte sie den Grund kennen: seinen al­ten Kumpel Meier, einer der schweren Jungs, die in den Bussen von Chemnitz die hinteren Sitze belegten, und die der Westen gratis bekam.
Ursel konnte ihn vom ersten Moment an nicht ausstehen. In der rauen See fand sich ein Strohhalm. Sie schlug ihrem Freund vor, gemeinsam eine größere Wohnung zu suchen, außerdem finanzierte sie auch noch seinen Führerschein. Eine folgeschwere Hilfestellung, wie sich bald herausstellen sollte. Nichts half. Dem Einfluss des ehemaligen Knastkollegen konnte sie nichts erwidern, im Gegenteil. Als Bummi die Pappe endlich besaß, wollte er sofort ein größeres Auto, also musste Knete her, und Meier fand die zün­dende Idee. Alles lief so schief, schräger ging es gar nicht.
Für die entscheidende Aktion musste ein Auto her. Da beide wenig Ahnung besaßen, wie man Autos knackte, musste Ursels Karre als Fluchtfahrzeug herhalten. Wenn ich mich richtig erinnere, lief der Knack am späten Vormittag ab, in einer Bank Nahe der Kreuzung Haupt- Ecke Dominicusstrasse.
Der Überfall konnte durch die ” große Aufmerksamkeit eines wachsa­men Bürgers“ sehr schnell aufgeklärt werden – nix da, denn es war zufällig der deutschen Tugend eines Parkplatzsuchers zu verdanken, dass die Po­lizei sehr schnell am Ort des Geschehens auftauchte.
Folgendes lief damals ab.
Bummi sollte im Auto bei laufendem Motor auf seinen Kumpel warten. Da ihm alles zu lange dauerte, beschloss er, nachzuschauen. In diesem Moment erschien der “aufmerksame Zeitgenosse”, bemerkte auf “seinem Parkplatz” die laufende Karre, nahm an, dass jemand nur kurz in die Bank rein sei, um schnell etwas zu besorgen. Schließlich stieg der Mann aus seinem in zweiter Spur haltenden Fahrzeug, rauchte auf dem Gehsteig eine Zigarette und ging dabei auf und ab, stellte deshalb an dem anderen Fahrzeug zwei verschiedene Nummern­schilder fest. (Eins, der von Meier besorgten alten Nummernschilder, war auf der kurzen Fahrt abgefallen – das benutzte Teppichklebeband stammte bestimmt vom Schnäppchentisch.) Stracks eilte er zur nächsten Telefonzelle und benachrichtigte die Poli­zei. Während dieser Zeit erledigten die beiden Jungs in der Bank ihr Geschäft. Es zog sich etwas länger hin, da Bummi mit einer Kleinigkeit nicht einverstanden schien. Angeblich war der Tresor durch Zeitschlösser gesichert. Meier be­stand aber darauf, zumindest die habhaft werdende Knete einzusacken. Was er, entgegen Bummis Ansicht, auch tat. Dabei fielen fast nur 5-Markstücke an, allerdings über ein Zentner, was ungefähr 5000 DM entsprach. Also den Sack auf den Buckel und raus.
Gemeinsam fuhren sie zum U-Bahnhof “Alt Tempelhof”. Dort schnürte der Scheff mit Hilfe einer Wolldecke ein unauffälliges Bündel und verschwand im Underground. Bummi raste nach Mariendorf und knallte sich in die Falle. Kaum im Bett, klingelte es. “Total verschlafen und gähnend” beschwerte er sich ob der Störung. Allerdings waren die Grünberockten auf dem Treppenabsatz sehr humorlos, denn sie ließen den “Langschläfer” noch nicht mal ausreden, for­derten ihn ziemlich unsanft auf, sich anzuziehen. Er könne sich auf der Fahrt ins Revier überlegen, was er dort zum Besten geben wolle.
Nachdem ich Meiers Konterfei im “Tagesspiegel” ansichtig geworden war, vergingen kei­ne zwei Wochen, da ward auch er gekascht und von der schweren Beute nichts mehr vorhanden, scheinbar alles verflippert.
Wegen bewaffneten Bankraubes wurden acht und sechs Jahre Haft beantragt. Was daraus geworden ist, weiß ich nicht.
Ursel verzog unbekannt.

WEMBLEY – Frühjahr ’77

Zur Erinnerung! 
Um 1974 im Osten, dem ersten Schlaraffenland aller Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden, bei 21 Tagen Grundurlaub, drei Wochen Urlaub zu machen, wurden die sowieso arbeitsfreien Samstage hinzugerechnet.
Drei Jahre später, nun bereits ein Jahr in der berühmten Firma Sonnenschein
, im tiefsten Sumpf des Kapitalismus’  und deren, dort herrschenden Wolfsgesetze, gab es mit drei Tagen Erschwernis – 30 Tage zur Regenerierung – was vollen sechs Wochen entsprach. Mir reichte diese Zeit für einen Trip auf die immergrüne Insel nicht, ich wollte noch zwei Wochen unbezahlt, was aber nicht machbar schien. Zu eben dieser Zeit gab es allerdings in der Firma Kurzarbeit, dass hieß, täglich musste ein Kollege aus der Abteilung zu Hause bleiben. Nun kam mein listiges Proletenhirn zu dem Ergebnis, für alle Mitarbeiter diese schrecklichen, arbeitslosen Tage zu übernehmen, was täglich zwischen 50 bis 80 Mark Netto weniger in der Lohntüte ausmachten. Mein Vorhaben rief nicht ge­rade Begeisterungsstürme hervor, weder bei der Geschäftsleitung, noch bei den betroffenen Kollegen, vom Betriebsrat ganz zu schweigen.
Allen begann ich auf den Senkel zu gehen, schließlich gab mein Meister un­ter der Bedingung auf, wenn alle Kollegen mit meinem Plan einverstanden wären und der Rest sollte mit der Gewerkschaft abgekaspert werden.
Schließlich fanden es fast alle O.K, bis auf Hammerkarl. Mit selbigen lag ich seit geraumer Zeit schräg, wegen eines Kuckuckseis an dem ich mich beteiligt hatte.
Pille war auf diese Idee gekom­men, weil er irgendwann, an seine Frühschicht noch acht Stunden dranhängen musste. Wir pappten eine Blechtafel von 1,5 mal einem Meter über Karls Arbeitsplatz. Befestigten das Teil mit Schwerlastdübeln an der Betonwand und schweißten zusätzlich die Schrauben noch am Blech fest. Von mir stammte die fein säuberliche Frakturschrift darauf:
Es trinkt der Mensch, es säuft das Pferd.
Doch Hammerkarl machts umgekehrt!
Schließlich gab der alte Suffschäddel, der immer wieder seiner größten Zeit bei der LAH (für Nichtwissende – Leibstandarte Adolf Hitler) nachtrauerte, auch das Einverständnis. Stotternd, wie immer, wenn ihn etwas aufgeregte: Duh, duh Stück Sah-sah-sachsenscheiße, duh! Du halber Ruh-ru-russe! Icke will dir ja nich im Weje stehn, weh-wenn du einem unserer Verbündeten ah-aus dem ersten Krieg einen Beh-besuch abstatten willst…
Von Pille, dem stellvertretenden Betriebsratsknecht erfolgte noch das letzte Wort. Schließlich trete die IG-Metall dafür ein, Arbeitsplätze zu erhalten und sollte nicht Urlaubsgeilen Ostlern bezahlte Kurzarbeitstage zuschanzen, so als verlängerten Urlaub. Als Gewerkschafter gab ich ihm sogar Recht und beim nächsten Billard­termin ein großes Bier nebst Wodka aus.
So konnte ich schließlich Ende April 1977, nach sechs Wochen Irland und anschließenden zwei in Wales, feststellen dass sich die Ebene auf der ich mich nun bewegte, mächtig verschoben hatte.
Da reichte es ein paar Jahre vorher noch aus, wenn ich auf dem Heimtramp, nachts im finstersten Halle/Saale fest hing, und mir sogar die 4 Mark 80 für die Rückfahrt fehlten, am nächsten Morgen im Zug den Schaffner zu bitten, mir ein Ticket auszuhändigen, das dann wenig später in Sangerhausen bezahlt wurde.
In Westeuropa war dann immer ein Euroscheck meine eiserne Reserve, wenn es mit dem Daumen partout nicht weiter ging. Dieses Bankpapierchen nützte ei­nem allerdings auch nicht viel, wenn man sich beim Ausfüllen zu blöde anstellt, wie es mir in Wales erging. Dieser faux pas unterlief mir in Bangor auf einer Bank. Wieder einmal hatte ich seit Monaten meine Unterschrift verändert und es vergessen. Jener Krakel auf dem Scheck war deshalb nicht mit dem im Ausweis identisch, worauf mir logischer Weise kein Geld ausgezahlt wurde. Knapp kalku­liert schien die restliche Barschaft noch bis Dover über Liverpool zu reichen.
In der Nähe von Bir­mingham, ließen mich ein Wust von Schnellstraßen und Autobahnen schier ver­zweifeln, also bis zur Hauptstadt in den Zug. Anfangs in dieser Gegend, vielleicht auf 20 oder 30 Kilometern, rechts und links der Bahnstrecke ewig Industrieruinen auch aus dem letzten Jahrhundert…
In London wollte ich bei dem jungen Landlord ei­nes Inders, den ich während meiner Tramptour in Irland kennen lernte, über­nachten, der Typ sollte spottbillig seinen Wohnwagen vermieten. Als ich zu später Stunde im Ortsteil Wembley endlich das Haus fand, schlug Murphy zu. Im Garten nirgendwo ein Campingwagen, allerdings die Mini-Rasen­fläche vom Rangieren total hinüber und in der Ausfahrt frische Radspuren. Mein Be­kannter allein im Haus, wollte mich berechtigter Weise dort nicht nächtigen lassen. So als Entschädigung kam die Offerte zu einigen Pints in einem Nobelrestaurant.
Wieder auf der Straße, begann er mit sich zu hadern, denn es nieselte. Davon befreite ich ihn, als wir an einem Hinweisschild zum Stadion vorbei kamen und ihm kundtat, dort eine Penne zu suchen. Kurz darauf, just in dem Moment, als es, wie die Briten sich auszudrücken pfle­gen, Katzen und Hunde regnen begann, leuchtete auf der anderen Straßen­seite das schummerig Entree eines kleinen Hotels auf, nichts wie rüber.
Mist, nirgends eine Klingel zu finden, also laut an den Türflügel po­chen. Drinnen tat sich nichts, auch nicht, vom Geräusch der wummernden Fäuste, allerdings ging dabei langsam das Portal auf. Drinnen, vor dem Counter nahm ich auf meinem Rucksack Platz und begann zu rauchen. Anschließend er­folgten weitere Versuche mich bemerkbar zu machen, durch Rufen und klopfen auf die Schlagklingel am Tresen, nicht rührte sich. Nun wurde mir alles Scheiß­egal, ich wollte nur noch ratzen. Zündete noch einen Glimmer an und begann rum zuschnankern, gewahrte dabei hinter der Anmeldung eine Kellertreppe und kam auf die Idee, einfach runter zu gehen um mich dort breit zu machen. Egal was spä­ter geschehen würde, aber die Tür war verschlossen. Als ein weiterer Versuch scheiterte, mich bemerkbar zu machen, erfolgten weitere Erkundungen.
Ebener­dig, hinter der linken Tür befand sich ein kleiner Speisesaal. Gegenüber an der Stirnseite des Raumes, in einer Zieharmonikaholzwand noch ein Zugang, hinter der sich das gleiche Mobiliar wie im ersten Raum befand. Allerdings waren die Fensternischen mit dicken Stores verhangen und diese gemauerten Ausbuch­tungen waren so gewaltig, dass man dort ohne weiteres auf einer Matte pennen konnte, ohne gleich gesehen zu werden, falls jemand den Raum betrat. In kürze­ster Zeit wurde das Nachtlager gerichtet.
Ich musste wie ein Stein geschlafen haben, als es draußen bereits hell war, ertönte Stimmengewirr aus dem vorderen Speiseraum und alle möglichen anderen Geräusche, die Gäste so veranstalteten, wenn sie sich das Frühstück einverleiben. Hinzu kamen gigantische Gerüche die umherwaberten.
Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend, nicht nur wegen des Kohldampfes der sich einstellte, brach ich lautlos meine Zelte ab. Zog leise den Store etwas beiseite, platzierte den Rucksack an der Tür, hockte mich an einen Tisch und harrte der Dinge die da kommen sollten. Im Nachbarraum wurde es langsam immer ruhiger, es schienen dabei Stunden vergangen zu sein, was ich aber nicht korrekt nachvollziehen konnte, da meine Taschenzwiebel nachts den Dienst versagte.
Endlich trat Ruhe ein, außer dem leichten Geräuschpegel aus dem Vorraum, am Counter. Nun war es an mir, mich startklar zu machen. Rich­tete oben mit meinem zweigeteilten, fünfzinkigen Kamm die langen Fusseln, striegelte notdürftig den Bart und drapierte anschließend die Baskenmütze auf dem Haupt. Zupfte ordentlich die Hosenbei­ne der Jeans in den Springerstiefeln zurecht, kroch in den Parka, nahm einen tie­fen Zug Whiskey, irischen Paddy, schob mir einen Riegel Kaugummi hinter die Kiemen, schulterte salopp meinen Rucksack – dabei kroch aber mächtiger Bammel in mir hoch.
Wie sollte ich den Raum betreten?
Vorsichtig die Tür öffnen oder alles forsch laufen lassen?
Also doch die zweite Variante!
Schließlich war es bei mir immer schon Gang und Gebe, illegal in niedlichen, kleinen englischen Hotels zu übernachten.
Also tief Luft geholt und durch…
Versucht lässig ging es an, trat aber keine zwei Schritte in den Raum, noch nicht mal die Klinke losgelassen und erschrak plötzlich, wie selten in meinem Leben.
Hinter dem halbgeöffneten Türflügel sprang jemand erschrocken auf, als er meiner ansichtig wurde, wobei der Stuhl krachend umschlug und brüllte mit überschlagender Stimme, als ob ihm der Leibhaftige erschienen war.
Bruchteile von Sekunden ging bei mir nichts mehr, dann kam es langsam. Da stand ein hutzliges, am ganzen Leib zitterndes altes Weib. Zu erst nahm ich von Gesicht und Hals, nur fettige, bepapp­te Falten war, ein riesiges Maul und drinnen ein vibrierendes Zäpfchen, nebenher dieses infernalische Gekreische. Besänftigend hob ich meine Hände, unge­schickter weise rutschte dabei mein Rucksack runter und knallte ihr vor die Füße. Was die Verrückte veranlasste, nach hinten zu torkeln, gegen den Tisch zu knallen und noch etwas nachzulegen mit der Laut­stärke. Während ich mich nach dem Reisesack bückte und mit der verbleibenden Hand Beschwichtigungsversu­che unternahm, kam mir kurz der Gedanke meine beiden Hände zu etwas ande­ren zu gebrauchen.
In diesem Moment wurde mir schlagartig klar, das es Individu­en gab, die in solch einem Fall jemanden den Hals umdrehen mussten. Gott noch mal, wo nahm diese Vettel ihre Energie nur her? Den Rucksack schon wieder ge­schultert und ein paar Schritte von ihr entfernt, wurde sie immer wieder lauter wenn ich mich nur nach ihr umdrehte.
Nun kam mir endlich, wer da so infernalisch sang, die Braut musste eine ziem­lich alte Amerikanerin sein. Ihre dünnen Beinchen steckten in unförmigen Lat­schen, der Körper wurde von einem gesteppten, schweinchenrosafarbigen Mor­genmantel umhüllt. Riesige, knallrote Krallen und unförmigen Klunker zierten die pergamentenen Finger. In den grauen Haaren steckten viele, nun etwas aus der Form geratene Lockenwickler. Als ich das letzte Mal zu dem hysterischen Weib blickte, hatten ihre Ohren und sichtbare Teile des Gesichtes schon eine ge­fährliche Rötung angenommen, die mehr ins violette tendier­ten. Mit dieser Birne wäre sie glatt als Werbegag, für Mag Light oder Osramglühbirnen durchgegangen.
Nun war es an mir, mich darauf zu konzentrieren, was sich im vorderen Teil des Speisesaales und an der Rezeption abspielte.
Nie wäre ich auf die Idee gekom­men, dass sich so viele Menschen in solch einem kleinen Hotel aufhalten könnten. Bestimmt an die 40 Leute glotzten mich an, wie in Bayreuth den Siegfried, aller­dings niemand ausgesprochen feindlich, einige grinsten dabei recht unverschämt.
Jetzt lag es an mir, erst mal etwas auf bedeppert zu mimen, nichts verstehen vor­geben, um langsam wieder Oberwasser zubekommen. Ein schmächtiger Mann, in feinen Zwirn gekleidet, ungefähr in meinem Alter, En­de 20, versuchte gleichzeitig auf mehreren Hochzeiten zu tanzen. Gab mir zu ver­stehen, am Tresen der Rezeption auf ihn zu warten, während er die nun endlich verstummte Gästin tröstete und sehr feinfühlig hinaus komplimentierte. Gleich­zeitig versuchte die Menschenmasse im Vorraum durch Handbewegungen und sanfte Sprüche zu vertreiben. Gleichzeitig eine ältere umher­wuselnde Dame besänftigte, die unentwegt nach der Polizei rufen wollte, bei der es sich um die Chefin und Mutter handelte, wie sich bald herausstellte.
Als wir uns endlich zu dritt, im geschlossenen Speisesaal wieder fanden, kam für mich eine Lehrstunde an englischen Umgangsformen.
Freundlich steif stellte der junge Mann sich und Mutti vor, nebenbei fischte er unbemerkt einen Aschenbecher, denn ich hielt mich schon wieder an einer Fluppe fest. Ihn irritierte etwas die Tatsache, dass ich partout nichts zu verstehen schien. In feinstem Englisch, mit einer Körpersprache, die der von Louis Tren­ker in keinster Weise nachstand, versuchte er herauszubekommen, weshalb ich im Gegensatz, wie er es normalerweise gewöhnt war, morgens mit Rucksack aus dem hinteren Speisesaal in Richtung Rezeption bewegte.
Schließlich gelang Junior, Mutti zu beruhigen. Die alte Dame kam absolut posh daher, plauderte in ihre Muttersprache, wie ich es aus Kindheitstagen nur bei den Sprachkursen der BBC erlebte. Deshalb verstand ich fast alles.
Die Seniorchefin versuchte zum Schluss nochmals ihren Sohn zu bewegen, dass er wenigstens meinen Rucksack auf Diebesgut kontrollieren sollte. Was er mir peinlich berührt darbrachte. Ich kam seiner Aufforderung nach und begann mein knirsch gepacktes Reiseutensil vor ihm auszubreiten, schließlich verzichten sie auf die gänzliche Kontrolle.
Es schien gelaufen, da wollte die Alte wenigstens noch einen Blick in meinen Pass werfen und alles begann von vorn. Dieses kleine grüne Ding, was ich ihr in die Hand drücken wollte, lehnte sie angewidert ab, den Berliner Behelfsmäßigen Personalausweis, ihr auch vollkommen unbekannt war. Sofort brachte sie wieder die Polizei ins Spiel. Nur gut, in diesem kleinen Teil gab es ja einen Hinweis in Englisch, schließlich schienen Führerschein und Scheckkarte sie halbwegs zu überzeugen.
Beide begleiteten mich dann an die Eingangstür, wobei Mutti im Vorraum stehen blieb, mich nur mit kurzem Nicken verabschiedete, sie schien die Welt nicht mehr zu verstehen. Ihr Sohn entließ mich mit einem Händedruck, “Es war nett ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, für die Übernachtung berechne ich heute nichts. Für die nächste Zeit sind sie uns ein willkommener Gast, aber dann mel­den sie sich bitte wie alle an­deren Gäste an der Rezeption an! Ich wünsche ihnen einen weiteren angenehmen Aufenthalt in unserem Land.”
Die letzten beiden Tage meines Aufenthaltes im U.K. sind schnell erzählt.
Kurz kam ich noch in Konflikte mit mir, beim Anblick eines Posters. An bewusstem Tage sollte im Wembley-Stadion jene kalifornische Gruppe auftreten, die Jan & Dean so geil abkupferten und im ähnlichen Stil eigene Sachen verzapften. Die­ses Problem erledigte sich aber von selbst, als ich in Soho, in einer Pizzeria mit bekam das es wieder zu schütten begann. Also, nix Beach Boys, sondern fürs letzte Geld ein Ticket nach Dover erstanden.
Wie sollte ich aber von der Insel runter, deshalb war am Fährhafen nach Calais wieder Kreativität gefordert.
In der Warteschlange guckte ich mir ein sehr junges Pärchen aus, von ihrer Rostlaube schloss ich auf eine bestimmte Lebenseinstellung, nebst Verständnis für mein Problem. Bei dem Typen setzte ich, was Men­schenkenntnis anging, total aufs falsche Pferd. Es schien sich bei ihm um einen modisch gestylten Freizeithippie aus dem Bonner Raum zu handeln, außerdem auch noch Fan von ZDF-XY-Zimmermann: Man hört und liest ja so viel…
Dabei war mein Anliegen vollkommen risikofrei, allerdings mit leichtem Aufwand ver­bunden. Alles klappte doch noch, was ich seiner Freundin verdankte. Das Paar sollte meinen Rucksack, worin er Drogen vermutete, mit auf den Kahn nehmen, aber, wenn ich nicht kurz vor Ab­fahrt an Deck erschien, sie ihn mir wieder runter auf die Pier schmeißen sollten.
Nur gut, dass es sich beim englischen Königshaus um die Hannoveraner Linie und nicht die Preußische handelt. Die Genossen von der Pass- und Zollkontrolle schienen andere Sorgen zu haben, als friedliche Leute neugierig wegen ihrer Papiere zu belästigen. Aufs Schiff gelangte ich in mitten einer lustigen Meute belgischer Jugendlichen, in dem Chaos gaben die genervten Uniformträger sehr schnell ihre Versuche des Nachzählens auf.
Große Freude kam beim Chefhippie auf, als er mich endlich gewahrt, entschuldigte sich sofort wegen seiner kurz vorher geäußerten Vorbehalte: Sie wissen doch… Außerdem gibt es für solchen Fall, wie den ihrigen, Botschaf­ten und Konsulate…
Ihn beeindruckte dann doch, dass es wirklich möglich schien, solche Institutionen nicht in Anspruch zu nehmen. Sein schlechtes Gewissen daraufhin oder sonst was, kam mir dann doch sehr gelegen. Anschließend auf See wurde ich regelrecht genötigt mir meine Wampe bis zum Abwinken, mit Köstlichkeiten aus ihrem Picknickkorb voll zuschlagen.
Einschließlich des späteren Lifts nach Aachen, empfing mich der Kontinent sehr lustig, allerdings verspürte ich keine Lust weiter zu trampen.
Deshalb rief ich vom Bahnhof aus S. an, die aus der Domstadt stammende, kleine, dickbrüstige, in Berlin stupidierende Fabrikantentochter, als politisch bewegte Langzeitstudentin vermutete ich sie zuhause, dem war auch so…
Sie organisierte sofort eine konspirative Geldübergabe. Innerhalb kürzester Zeit tauchte ein Freund von ihr auf und überreichte mir eine blaue Fliese für das Bahnticket. So rutschte ich auf einem Ritt, wieder in die eingemauerte Insel, mit allen diesen angenehmen Unterbrechungen, an Zaun und Mauer, die von mir, oft zum Entset­zen der Mitreisenden aufgelockert wurden.
Leider haben die wenigsten so abgekotz, wie ich es unaufhörlich tat…

PS.
Hatte mir besagten Termin deshalb ausgesucht, weil überall der Ginster und Rhododendron blühten. Trotz schwerer Bedenken eines Elektrikerkollegen, der vergangenes Jahr mit Kumpels eine 4wöchige Bootstour auf dem Shannon absolvierte und es fast die gesamte Zeit bärenmäßig schiffte. Sie ihre Zeit lediglich mit Saufen und Angelei verbrachten. Solch schauriges Wetter bleib mir in Irland die gesamte Zeit erspart, dies änderte sich erst in den letzten drei Tagen, als ich noch einen kurzen Abstecher nach Liverpool machen wollte…
Ward das anschließend ein Stress, als ich mich nach acht sehr erlebnisreichen Wochen, wieder an die Maloche gewöhnen musste. Hatte ich doch auf der gesamten Insel Menschen aus allen sozialen Schichten kennen gelernt, von den Slums in Dublin bis hin zur High Society.
Alles begann gleich am ersten Tag meines Aufenthaltes mit einem Arbeitssaufen bei den Dubliners. Die Jungs hatten sich einen Kutter zugelegt und es war ein Tag Rostklopferei angesagt, zwar ohne Lohn aber saufen bis zum Abwinken…
Allein über diese wenigen Stunden hätte ich ein Buch schreiben können. Erst abends, recht trunken bereits, tolerierten alle die Tatsache, dass ich mit ihren Chauvinismus gegenüber den Briten nichts anfangen konnte.
Die nächsten drei Tage ging es mir absolut schlecht, nicht etwa von der Zecherei. Obwohl während der Arbeitszeit der Himmel total bewölkt war, hatte ich mir fast einen Sonnenstich eingefangen, den ich in den Wicklow Mountains auskurierte…
Immer wieder waren die Leute begeistert von meiner Trinkfestigkeit und ich mich traute eingängiges deutsches Liedgut vorzutragen, wozu in den Pubs die Musikanten oftmals mit einfielen. Es handelte sich dabei u.a. um: „Ein Mops kam in die Küche“, „Ein Schneider fing ´n Maus“ und „Zwei rosa Elefanten“. Oftmals holte ich auch irgendwann meine D-Dur Bluesharp hervor, dann war alles zu spät…
Regelmäßig wurden meine Sangeseinlagen natürlich mit Unmengen an Volksdrogen vergütet. Was die Sauferei betraf, war es letztlich der billigster Urlaub, den ich je im Ausland verbachtet –  aber sehr ungut für meine Leber.
Als absoluter Kommunikationskatalysator stellte sich manchmal auch die Vorführung eines maskulinen Trinkerspielchens heraus, welches allerdings nicht nur in Irland zum Besten gegeben wurde. Wenn ich den Pint  Bier in fast identischer Geschwindigkeit ohne zu schlucken runter stürzte, die meine Widerparts für einen doppelten Paddy benötigten…